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und von Müller zeigten, wonach die Volksschule die Aufgabe hat, der Jugend für das Leben in Staat und Kirche die Grundlagen der Bildung und sittlichen Tüchtigkeit zu geben, zu einem bedenklichen Zwiespalt in der Einheit des Erziehungsplanes führen.

Zur Durchführung dieser Aufgabe dient der Lehrplan, der in den Bundesstaaten Deutschlands nicht wesentlich verschieden ist. Er erstreckt sich auf Religion, deutsche Sprache (Lesen, Schreiben, Aufsatz, Sprachlehre), Rechnen und Anfänge der Raumlehre, Geographie, Geschichte, Naturkunde, Gesang, Zeichnen, Turnen und Handarbeiten. Es gibt Bestrebungen, die darauf abzielen, aus der obligatorischen Volksschule den Religionsunterricht gänzlich auszuschalten. Vom Standpunkt einer gesunden Unterrichtspolitik darf einem solchen Vorschlag, selbst wenn er nicht die heftigste Opposition eines grossen Teiles der Staatsbürger hervorrufen würde, nicht zugestimmt werden. Es soll nur nebenbei erwähnt sein, dass die Berücksichtigung dieses Vorschlages in einem Staat mit garantierter Gewissensfreiheit und starkem religiösen Leben sofort zu einer Überschwemmung mit Privatschulen aller Konfessionen führen müsste, deren Überwachung im Interesse des Staates kaum wirksam durchgeführt werden kann. Von noch grösserer Bedeutung aber ist, dass der Staat tatsächlich ein Interesse an der religiösen Erziehung seiner Bürger hat, nicht wegen irgend eines religiösen Bekenntnisses, sondern einfach deshalb, weil bei einer sehr grossen Zahl, vielleicht bei der grössten Zahl von Menschen, die wahrhaft sittliche Erziehung am ehesten auf dem Boden irgend eines religiösen Bekenntnisses gelingt. Die Pflichtenlehre eines neutralen ethischen Unterrichtes vermag bei der reiferen Jugend in der Hand eines sittlich hochstehenden Lehrers gewiss zu einem klaren System sittlicher Begriffe mit stärker entwickelten Wertgefühlen verhelfen. Aber der Besitz von klaren sittlichen Begriffen ist noch lange keine. Sittlichkeit. Wo dagegen die starken religiösen Impulse wirken, ist, wenn auch nicht die höchste, so doch eine hohe sittliche Stufe selbst da möglich, wo kein System sittlicher Begriffe zu voller theoretischer Klarheit herausgearbeitet ist. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass der Religionsunterricht mehr als jeder andere Unterricht einen Lehrer verlangt, der selbst von den religiösen Wahrheiten, die er lehrt, erfüllt ist, und dass der Zwang zur Teilnahme an diesem Unterricht von dem Augenblicke an unheilvoll wirkt, wo er vom Schüler als ein intellektueller Zwang gefühlt wird.

Mehr und mehr machen sich in der neueren Zeit auch Bestrebungen geltend, den Lehrplan der Volksschule durch weitgehende Einführung praktischer Betätigung wirksamer nicht bloss für die intellektuelle, sondern auch für die Charakterbildung zu machen, die sogenannte Buchschule in eine Arbeitsschule zu verwandeln. Diesen Bestrebungen ist der grösste Vorschub zu leisten. Die heutige Volksschule leidet an ihrer historischen Entwicklung aus den mittelalterlichen Buchschulen heraus. Ihr Betrieb läuft selbst da isoliert vom Leben des Kindes, wo sie, wie in den Landgemeinden, in engste Verbindung mit dem häuslichen Leben des Kindes gebracht werden könnte. Vor allem aber leidet der Betrieb daran, dass er keine oder doch viel zu wenig Rücksicht nimmt auf die normale Seelenverfassung des Kindes zwischen 6 und 14 Jahren, deren Grundzug starke Aktivität ist. Es scheint indes, dass diese für die staatliche Organisation der Volksschule fundamentale Erkenntnis sich langsam Bahn bricht.

Im allgemeinen verteilen sich die Unterrichtsgegenstände der Volksschule auf 3 Stufen, die Unterstufe mit etwa 22 Stunden wöchentlichen Unterrichtes, die Mittelstufe mit etwa 28 Stunden wöchentlichen Unterrichtes und die Oberstufe mit etwa 30–32 Stunden. In den achtklassigen Schulsystemen gehören die 4 ersten Klassen der Unter- und Mittelstufe an, die 4 letzten Klassen der Oberstufe. In manchen Staaten ist diese Oberstufe zu einer gehobenen Volksschule (Mittelschule, Bürgerschule) ausgebaut durch Erweiterung des Unterrichtes, nicht selten sogar durch eine fremde Sprache. Bei jährlich 40 Unterrichtswochen erstreckt sich somit die gesamte Unterrichtszeit in den deutschen Volksschulen während 8 Schuljahren, wenigstens in den Staaten, deren Schulwesen auf dem Prinzip der Ganztagschule (für jede Klasse ein Lehrer und ein Schulraum) aufgebaut ist, auf etwa 9000 Unterrichtsstunden. Nicht unbeträchtlich niedriger ist die Zahl in jenen Staaten, die sich, wie Sachsen, mit der billigeren Halbtagschuleinrichtung (für je 2 Klassen ein Lehrer und ein Schulraum) begnügen. In sächsischen Grossstädten, wie Chemnitz und Plauen, haben nach Professor Schöbel (Statistisches Jahrbuch der deutschen Städte, Seite 657) drei Viertel aller Schulkinder während ihrer achtjährigen Schulzeit über 1800 Unterrichtsstunden

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/141&oldid=- (Version vom 20.11.2021)