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Ein anderes Mittel zur Organisation der Produktion stellen die Kartelle dar, Vereinigungen selbständiger Unternehmungen zum Zwecke gemeinsamer Regelung der Erzeugung und des Absatzes, sei es durch einheitliche Feststellung der Verkaufsbedingungen oder Verkaufspreise, sei es durch eine Einschränkung der Erzeugung entsprechend dem tatsächlichen Bedarf in dem betreffenden Artikel, sei es durch Aufteilung des Absatzgebietes oder – in der strengsten Form – durch eine Zentralisierung des Verkaufes. Im Sommer 1905 wurden in Deutschland amtlich 385 Kartelle festgestellt, doch gibt eine solche Ziffer keinen genügenden Anhaltspunkt für die Bedeutung der Kartellbewegung mehr, weil nicht mehr für jeden einzelnen Artikel selbständige Kartelle, sondern oft Gesamt-Kartelle mit Unterabteilungen für die einzelnen Artikel gebildet werden. So ist der Stahlwerksverband aus vier Verbänden entstanden, dem Halbzeugverband in Düsseldorf, dem Trägerverband in Wiesbaden, der deutschen Schienen- und der deutschen Schwellengemeinschaft in Essen. Er gliederte sich in ein Verkaufskartell für die Produkte A, schwere Massenerzeugnisse von einfacher Erzeugung, und ein Kontigentierungskartell für die Produkte B, die übrigen Walzwerkserzeugnisse, für welche lediglich die Beteiligungsquote der einzelnen Werke an der zulässig erklärten Gesamtproduktion festgelegt wurde. Die Produkte A sind wieder in drei Gruppen geteilt, nämlich eine für Halbzeug (Rohstahl, vorgewalzte Blöcke und Brammen, Knüppel, Platinen), Eisenbahnoberbaumaterial (Schwellen, Schienen usw.) und Formeisen (Träger); jede Gruppe ist einer besonderen Verkaufsabteilung zugewiesen, die sich wieder in eine Unterabteilung für den Absatz im Inlande und im Auslande teilt. Jedenfalls hat sich die Kartellfähigkeit, die in den einzelnen Industriezweigen verschieden ist, gesteigert, da die Voraussetzungen hierfür, Grösse des Betriebes, Gleichartigkeit des Produktes usw. günstiger geworden sind, und so ist Deutschland das klassische Land der Kartelle geworden. Als im Jahre 1902 Schreiber dieser Zeilen die Kartelle für eine ganz natürliche und berechtigte Erscheinung erklärte, wurde sein Buch von wissenschaftlicher Seite geradezu auf die Proskriptionsliste gesetzt. Seither hat sich die Überzeugung von der Notwendigkeit der Kartelle auffallend rasch verallgemeinert. Man sieht ein, dass die Produzenten von heute nicht wie früher den Markt übersehen können und daher zeitweise in eine Überproduktion verfallen müssen, die zwar für den Konsumenten momentan vorteilhaft ist, bei einer dauernden Senkung der Preise unter die Produktionskosten aber schwere Erschütterungen der Volkswirtschaft herbeiführt, die auch für den Konsumenten den vorübergehenden Preisvorteil mehr als aufheben. Die Kartelle schaffen kein Monopol, wie so oft behauptet wurde, sondern versuchen eine Anpassung der Produktion an den Bedarf. Übergriffe kommen vor, aber weniger in der Preisfestsetzung, als vielmehr in der Bekämpfung der aussenstehenden Unternehmungen, der Outsiders. Es ist übrigens sehr bezeichnend, dass gerade in Deutschland die Angriffe gegen die Kartelle verhältnismässig milde waren und dass Deutschland den krampfhaften Versuchen anderer Länder, den populären Schlagworten zu folgen und durch einen alten Paragraphen oder durch ein neues Gesetz die Kartelle zu töten, sehr kühl und skeptisch gegenüberstand. Das deutet darauf hin, dass die Politik der deutschen Kartelle eine ebenso weise war wie die der deutschen Regierung.

Eine starke Stütze fand dieser Konzentrations- und Kartellierungsprozess jederzeit in dem Finanzkapital. Wohl nirgends haben die Banken die neuen und schwer zu erkennenden Bedürfnisse der Industrie so rasch erfasst und so zweckmässig befriedigt wie in Deutschland. Der Hauptgrund liegt wohl darin, dass zur Zeit der Gründung des Reiches im Bankwesen eine starke Dezentralisation bestand, welche die einzelnen Institute zwang, mit wachsendem Eifer nach neuen Geschäftsmöglichkeiten Ausschau zu halten. An den einfachen Kontokorrentverkehr mit dem industriellen Unternehmen schloss sich die Emission von neuen Aktien und Obligationen für dasselbe, die Umwandlung von Einzelfirmen in Aktiengesellschaften, die Beihilfe bei dem Abschluss von Interessengemeinschaften und Fusionen, die Abrechnung oder direkte Verkaufstätigkeit für eine Gesamtheit kartellierter Firmen und die Finanzierung des Exportes durch Errichtung eigener Überseebanken und Bevorschussung der Dokumenten-Tratten. Die geschäftlichen Verhandlungen führten auch zu zahlreichen persönlichen Beziehungen zwischen Banken und Industrie; in dem Aufsichtsrate der grossen Industriegesellschaften sitzen auch Vertreter der Banken, ebenso ziehen auch die Banken Fachleute aus der Industrie an sich. Die in den letzten Dezennien zutage getretene Konzentration der Banken ist zum Teil eine Folge ihrer Industrietätigkeit. Ursprünglich pflegte jedes Institut die

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/417&oldid=- (Version vom 30.10.2021)