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Die Zahl der in der Industrie beschäftigten Personen hat sich also in einem Vierteljahrhundert fast verdoppelt. Dadurch ist die Landwirtschaft als Erwerbsquelle erheblich zurückgedrängt worden. In Preussen gehörten im Jahre 1843 noch mehr als 60% der erwerbstätigen Bevölkerung der Landwirtschaft an, im Jahr 1907 nur noch 28,6%. Im Deutschen Reich ist der Anteil der Industrie von der Berufszählung von 1882 bis zu jener von 1907 von 35,5% auf 42,8% gestiegen, der der Landwirtschaft von 42,5% auf 35,2% gefallen. Der Prozentsatz der Industrie wird heute nur noch von Grossbritannien, der Schweiz und Belgien übertroffen, wo aber ganz besondere Verhältnisse die Ausdehnung der Landwirtschaft hemmen. Diese rasch fortschreitende Industrialisierung hat Bedenken geweckt, die in der Kontroverse über „Agrarstaat“ und „Industriestaat“ ihren lebhaften Ausdruck gefunden haben. Man befürchtet vom Industriestaat eine wachsende Abhängigkeit vom Auslande, eine Aushungerung im Kriegsfalle und eine Minderung der nationalen Wehrkraft. Die wirtschaftliche Abhängigkeit wird aber ungefährlicher, weil sie in immer höherem Grade eine gegenseitige wird, die Aushungerung im Kriegsfalle hat aber am wenigsten Deutschland zu fürchten, das über mehrere Zufuhrwege verfügt und sich gleichzeitig auf eine starke landwirtschaftliche Produktion im Inlande stützt, die Minderung der nationalen Wehrkraft wird aber auch nicht eintreten, weil man die sanitären Gefahren der industriellen Beschäftigung zu bannen versteht und die Kriegstechnik überdies immer grössere Anforderungen an die Intelligenz als an die physische Kraft der Soldaten stellt. Zwischen Landwirtschaft und Industrie besteht überhaupt nicht jener scharfe Gegensatz, der vielfach durch Schlagworte des Tages konstruiert wird. Mit dem wachsenden Wohlstand der Bevölkerung vermehrt sich begreiflicherweise der Bedarf an Industrie-Erzeugnissen stärker als jener in Nahrungsmitteln. Daher muss die Industrie ganz naturgemäss einen immer breiteren Raum im Wirtschaftsleben eines Kulturlandes beanspruchen. Die Landwirtschaft aber sinkt deshalb nicht in ihrer Bedeutung, denn bei ihr wird die Grösse des Bedarfes ersetzt durch die Dringlichkeit des Bedarfes, weil das Nahrungsbedürfnis allen anderen vorangeht. Die Industrie braucht die Landwirtschaft als notwendigen Unterbau, fördert sie aber durch Vermehrung der Nachfrage und durch Beistellung wichtiger Produktionsmittel (Maschinen, künstliche Düngemittel) und ermöglicht ihr jene Industrialisierung, für welche besonders Dänemark ein charakteristisches Beispiel bietet. Die Landwirtschaft wird selbst ein Industriezweig. An Gegensätzen wird es auch dann nicht fehlen, aber sie werden nicht grösser sein als zwischen den einzelnen Zweigen der heutigen Industrie.

Die Ziffer für die erwerbstätigen Personen lässt den Aufschwung der industriellen Arbeit nur zum Teil erkennen, weil die Menschenarbeit in steigendem Verhältnis von der Maschinenarbeit abgelöst wird. Die Verwendung von Motoren in Industrie und Bergbau war folgende:

Betriebe mit Motoren
(Haupt- und Nebenbetriebe)
Pferdestärke
1895 139.687 3,356.538
1907 233.360 8,008.405

Gleichzeitig ist die Leistungsfähigkeit der Motoren gestiegen, weil man sich von den unregelmässigen und unzuverlässigen natürlichen Betriebskräften Wind und Wasser unabhängig zu machen wusste. Noch im Jahre 1882 war in Deutschland die Wasserkraft an erster Stelle, seither aber erfolgte ein entscheidender Umschwung zugunsten des Dampfes und der Elektrizität. Es entfielen von den Motorbetrieben auf

Windkraft Wasserkraft
Betriebe Betriebe Pferdestärke
1895 18.242 53.908 626.853
1907 17.724 49.090 862.467
Dampfkraft elektrische Kraft
Betriebe Pferdestärke Betriebe Kilowatt
1895 54.402 2,661.513 2.003
1905 69.635 6,499.602 71.316 1,360.503
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/413&oldid=- (Version vom 30.10.2021)