Seite:Handbuch der Politik Band 2.pdf/403

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Durch die Bildung des deutschen Zollvereins hatte die Volkswirtschaft der Politik vorgearbeitet, die Politik bekam aber Gelegenheit zu einem Gegendienst durch die Gründung des Deutschen Reiches. Man spricht viel vom Milliardensegen, aber die wirtschaftlichen Vorteile der fünf Milliarden Entschädigung nach dem Kriege mit Frankreich sind mindestens zweifelhaft; vielleicht wären sogar ihre Nachteile unbestritten, wenn man nicht klugerweise einen grossen Teil als totes Kapital festgelegt hätte. Ein plötzlicher starker Kapitalzufluss stört das Gleichgewicht. Für die Industrie bedeutete aber die Gründung des Reiches den Beginn der Expansion nach aussen. In Europa mag man hie und da über Prestigepolitik die Achsel zucken, sie ist aber doch ein wirksames Mittel staatlicher Exportförderung nach aussereuropäischen Gebieten. Früher schmückte die Hütten im Orient das Bild Napoleons, dann musste es dem Bilde Bismarcks weichen. Deutschland wurde der Lehrmeister der modernen Staats- und Kriegskunst und die daraus sich ergebenden zahlreichen Beziehungen erwiesen sich wirtschaftlich ebenso fruchtbar wie jene sichtbaren und unsichtbaren Fäden, welche die katholische Missionstätigkeit zwischen Frankreich und dem Orient gezogen hatte. Über die Wahl der Ware entscheidet nicht der niedrigste Preis, sondern die gute Meinung des Käufers, und der Hinweis auf den niedrigsten Preis ist nur ein Mittel, diese gute Meinung zu erzeugen. Die deutsche Ware musste aber nach dem Orient und nach Übersee, weil sich die deutsche Industrie nur durch den Export spezialisieren und damit vervollkommnen konnte.

In einem Lande verzeichnet zwar das 19. Jahrhundert einen noch überraschenderen Aufschwung der Industrie: in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Vergleich fällt aber nicht zu Ungunsten Deutschlands aus, wie mancher Amerika-Enthusiast im ersten Anblick der Wolkenkratzer geglaubt haben mag. In Deutschland wurde rasch gebaut, aber vorsichtig Stein auf Stein gelegt, sodass man immer einen festen und wohlgefügten Bau vor sich hatte. Das amerikanische Wirtschaftsleben entwickelte sich mit dem Wagemut, aber auch mit dem Leichtsinn der Jugend, auf jungfräulichem Boden, unter den Händen von Abenteurern und Spekulanten, und birgt daher schwere Gefahren in sich. Die Organisation der industriellen Produktion in Kartellen und Trusts, die in Deutschland aus den Bedürfnissen der produktiven Arbeit emporwuchs, wurde in Amerika zu einem Werkzeug finanziellen Gründungsschwindels, die Eisenbahnen, in Deutschland ausschliesslich gemeinwirtschaftlichen Interessen dienstbar, wurden in Amerika zum Spielball privater Interessen, nirgends ist das Tarifunwesen so zur Blüte gelangt wie dort, kein moderner Kulturstaat hat sein Geldwesen so schlecht geregelt wie die Union, dabei beherrscht eine masslose Korruption die gesamte Gesetzgebung und Verwaltung. Die Vergangenheit war für Deutschland wohl ein Hemmnis, aber auch eine Schule, und zwar eine recht harte Schule. Die steht den Vereinigten Staaten von Amerika noch bevor.

Gewisse charakteristische Züge der industriellen Entwicklung Deutschlands treten am besten bei der Darstellung einzelner Industriezweige hervor. Die führenden Massenindustrien sind überall auf Grund der Verarbeitung von Baumwolle und Eisen entstanden. Im 18. Jahrhundert war zwar Sachsen eines der wichtigsten Produktionsgebiete für Baumwollwaren und betrieb auch über Leipzig einen ziemlich lebhaften Export, aber die Baumwolle stand damals hinter den anderen Spinnstoffen, wie Flachs, Wolle und Hanf, an Bedeutung weit zurück. Allmählich wurde aber in der Kleidung die herkömmliche Tracht von der rasch wechselnden, aber auch stark verbreitungsfähigen Mode verdrängt. Diese erzeugte das Bedürfnis nach einem rascher verbrauchbaren, aber billigeren und in grösseren Massen vermehrbaren Spinnstoff. Damit begann die Vorherrschaft der Baumwolle. In dieser Hinsicht war aber England doppelt begünstigt, weil es durch seine günstige Lage den überseeischen Rohstoff am billigsten beziehen und mit Hilfe seines internationalen Zwischenhandels den grössten Markt versorgen konnte. Das Bestreben nach Massenherstellung führte zur Erfindung der Spinnmaschine und des mechanischen Webstuhls. So wurde die Baumwollindustrie einer der wichtigsten Grundpfeiler der wirtschaftlichen Stellung Englands. Deutschland konnte erst nach der Bildung des deutschen Zollvereins daran denken, die früheren Ansätze einer Baumwollindustrie neu zu entfalten, denn gegen England war nur der maschinelle Grossbetrieb konkurrenzfähig. Der war aber nur möglich bei grossem Markt. Heute können wir nun ein interessantes Stück der Entwicklung übersehen. Zwar sagt uns die Spindelstatistik des Internationalen Verbandes der Baumwollspinnerei für den 1. März 1910, dass Deutschland nur 10,1 Mill., Grossbritannien aber

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/403&oldid=- (Version vom 29.10.2021)