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Stelle Deutschlands, da nirgends sonst die beiden genannten Voraussetzungen für die Grossindustrie sich in gleich günstiger Weise vereinigt vorfinden. Denn die anderen grossen deutschen Kohlengebiete, das Saarbrückener und das sächsisch-schlesische liegen weiter vom Meer entfernt, und es fehlt ihnen eine so leistungsfähige Wasserstrasse, wie sie dem rheinisch-westfälischen Kohlenbecken im Rhein zur Verfügung steht. Den Küstengebieten Deutschlands an der Nord- und Ostsee aber, die den Vorteil des unmittelbaren Seeverkehrs besitzen, und die durch die schiffbaren Ströme Ems, Weser, Elbe, Oder und Weichsel auch leistungsfähige Wasserverbindungen zum Binnenland haben, fehlt die eigene Kohle. Sie sind daher genötigt, diesen unentbehrlichen Brennstoff aus dem deutschen Binnenland oder aus dem Ausland, namentlich aus England, zu beziehen. Dieser Bezug, der auf dem Wasserweg erfolgen kann, ist allerdings billig und belastet die Industrie nicht allzusehr, sodass sich auch hier das Erwerbsleben, wenn auch nicht unter ganz so günstigen Verhältnissen, wie am Unterrhein, so doch im allgemeinen in befriedigender Weise entwickeln konnte.

Am ungünstigsten liegen die Verhältnisse, sowohl was die Beschaffung billiger Kohlen, als auch was die Verbindungen mit dem Ausland anbelangt, in Süddeutschland. Grössere Kohlenlager fehlen, abgesehen von denen des Saarbrückener Beckens, das an der nordwestlichen Grenze Süddeutschlands liegt, gänzlich, sodass die erforderlichen Kohlen fast vollständig von auswärts bezogen werden müssen. Was die Deckung des Bedarfs an Energie in Süddeutschland anbelangt, so kann allerdings für die Zukunft damit gerechnet werden, dass ein erheblicher Teil aus zwei inländischen Quellen wird gedeckt werden können, die seither erst in bescheidenem Umfang ausgenutzt worden sind, für deren Verwertung im grossen aber heute die Technik die Mittel bietet. Es sind dies zunächst die sowohl in Bayern als auch in Baden zur Verfügung stehenden bedeutenden Wasserkräfte, und sodann die Torflager, die sich in ausgedehnten Gebieten Bayerns finden. Namentlich in seinen Wasserkräften, die imstande sein werden, bei voller Ausnutzung im Jahresdurchschnitt schätzungsweise 10 000 Millionen Pferdekraftstunden zu liefern, besitzt Süddeutschland einen wertvollen und der Erschöpfung nicht unterliegenden Ersatz für die fehlende Kohle. Diese Wasserkräfte dürften berufen sein, im Wirtschaftsleben Süddeutschlands noch eine wichtige Rolle zu spielen und diese Teile des Deutschen Reiches in mancher Beziehung für die Ungunst der meerfernen Lage zu entschädigen. Denn die Teile Deutschlands südlich des Mains, die mit dem Namen Süddeutschland zusammengefasst werden und die Königreiche Bayern und Württemberg, die Grossherzogtümer Baden und Hessen sowie die Reichslande Elsass-Lothringen umfassen, sind weit von den Küsten des Meeres im Herzen des westlichen Europas fast in der gleichen Entfernung von den Gestaden der Nordsee, der Ostsee und des Mittelmeeres gelegen. Die Stadt Stuttgart, die eine zentrale Lage inmitten Süddeutschlands besitzt, liegt fast genau 500 km sowohl von den grossen Handelshäfen der Nordsee, Antwerpen, Rotterdam, Amsterdam, Bremen und Hamburg, als auch von den Mittelmeerhäfen Genua und Triest entfernt.

Obschon für den südlichsten Teil Süddeutschlands demnach die Mittelmeerhäfen die nächsten Seehäfen sind, bildet doch fast ganz Süddeutschland das natürliche Hinterland der Nordseehäfen, da einerseits der Gebirgsstock der Alpen die Verbindung mit den Mittelmeerhäfen erschwert und verteuert, andererseits aber die billige Wasserstrasse des Rheins das Einflussgebiet der Nordseehäfen erweitert. Bei den heute bestehenden Frachtsätzen liegen tatsächlich nur ganz kleine Teile Süddeutschlands im natürlichen Versorgungsgebiet des Mittelmeerhafens Triest, von dem aus nur einige Gegenden des deutschen Bodenseegebietes am billigsten mit überseeischen Waren – namentlich mit solchen, die vom östlichen Teil des Mittelmeers und durch den Suezkanal kommen – versorgt werden können. Abgesehen von diesen engbegrenzten und wirtschaftlich noch nicht sehr stark entwickelten Gebieten ist ganz Süddeutschland dem Hinterland der Nordseehäfen zuzurechnen und zwar fast vollständig demjenigen der ausländischen Nordseehäfen am Unterrhein, mit denen von den deutschen Seehäfen nur Hamburg über die Elbe in kleinen Teilen des nordöstlichen Bayerns in erfolgreichen Wettbewerb treten kann. Der überseeische Verkehr Süddeutschlands geht denn auch tatsächlich heute überwiegend über die Seehäfen am Niederrhein, namentlich über Rotterdam, und benutzt dabei soweit als irgend möglich die Wasserstrasse des Rheines, die um ein Vielfaches billigere Frachtsätze als die Eisenbahnen bietet. Auch die Versorgung Süddeutschlands mit Kohlen erfolgt hauptsächlich auf dem Rhein von den Ruhrhäfen aus.

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/294&oldid=- (Version vom 2.10.2021)