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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Wie sich das Volk gegenüber anderen Völkern nicht bloss mit Qualitäten, sondern auch mit Quantitäten von Menschenmassen durchsetzt, so gilt dies ebenso für die einzelnen Schichten desselben Volkes. Will die einzelne Klasse sich nicht selbst ihrer bisherigen Macht begeben, so muss auch sie dem Geburtenrückgang in ihren Reihen entgegentreten. Deswegen ist die Drohung, die Einschränkung der Kinderzahl zu einer politischen Frage zu machen und den Gebärstreik als Mittel des proletarischen Befreiungskampfes zu propagieren, auch bei der Leitung der Sozialdemokratie nicht aufgenommen und weiter verfolgt worden. Ein solcher Gebärstreik hiesse nichts anderes, als durch Selbstvernichtung den Gegner schwächen zu wollen. Das Proletariat verdankt seinen derzeitigen Einfluss dem Umstand, dass es die Masse ist, und würde in demselben Grad den Einfluss verlieren, als es weniger Masse ist.

Indessen, so beachtenswert die Erscheinung des Geburtenrückgangs aus den erwähnten Gründen ist, zu einer Panik, wie sie von übereifrigen, die Statistik nur oberflächlich prüfenden Literaten veranlasst wird, besteht für Deutschland noch kein Grund. „Würde der Kinderreichtum erlöschen, so ertrinken wir hoffnungslos in der Slavenflut und ersticken in unseren Bankdepots.“ „Wir sind im Begriff ein neues Jena zu erleben, wenn nichts geschieht.“ Solche Kassandrarufe sind übertrieben und wenig ratsam. Durch übermässige Schwarzmalerei der möglichen, aber nicht notwendigen Folgen der jüngsten Entwicklung reizen wir nur den Mutwillen derer, die unser Wachstum scheel ansehen, und schwächen das Selbstvertrauen in die eigene nationale Kraft.

Am wenigsten haben wir die Minderung der Geburtenzahl dort zu bedauern, wo hohe Geburtenhäufigkeit bisher von hoher Säuglingssterblichkeit begleitet war. So hatten wir bis vor wenigen Jahren in Deutschland Bezirke, in denen zwar sehr hohe Fruchtbarkeit vorhanden, aber deren bevölkerungsmehrender Effekt nicht grösser, zum Teil geringer war als in Bezirken mit niederer Fruchtbarkeit, weil von den Geborenen über 40% innerhalb des ersten Lebensjahres wieder wegstarben. Nach dem Zeugnis von Graf Witte kommt in Russland noch heute fast die Hälfte aller geborenen Kinder nicht ins 5. Lebensjahr; ähnlich war es bis vor kurzem auch in einer Reihe deutscher Bezirke. Die vorzeitig hinweggerafften Kinder (unter denen sich keineswegs bloss Schwächlinge und Kümmerer, sondern an sich lebenskräftige Elemente finden, da nachgewiesenermassen bei der Säuglingssterblichkeit keine Auslese gegenüber schwächeren Konstitutionen, kein Überleben der Tauglichsten stattfindet) sind, statt bleibende Einnahmen im Volkshaushalt, nicht einmal durchlaufende Posten, sondern unmittelbare Schädigungen unserer volklichen, ethischen und wirtschaftlichen Kraft. Die auf sie gemachten Aufwendungen gehen unserer Volkswirtschaft fast ganz verloren. Die vielen und rasch aufeinander folgenden Geburten bewirken häufig Gebärmutterverlagerungen mit allen daran haftenden Beschwerden, frühzeitiges Verblühen und Krankheit der Mutter, und sind neben schlechter Ernährung und ungenügender Pflege mit schuld, dass die wirklich aufkommenden Kinder vielfach nicht zu richtiger Vollwertigkeit gelangen. Diese bleiben in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung vielfach zurück und zeigen u. a. auch ungünstige Militärtauglichkeit. Unter solchen Umständen ist hohe Fruchtbarkeit nichts weniger als vorbildlich. Sie bedeutet Verschwendung von Volkskraft und wirtschaftlichen Werten, bedeutet Raubbau am Volkskörper.

Das bestätigt namentlich die bayerische Statistik. Sie zeigt, dass Bezirke mit hoher Geburtenhäufigkeit, also einem grossen Brutto-Aufwand an regenerativer Kraft, vielfach einen geringeren Aufwuchs, ein geringeres oder kein grösseres Netto-Ergebnis erzielen als Bezirke mit mittlerer Fruchtbarkeit. Beispielsweise wurde für den Regierungsbezirk Niederbayern im Durchschnitt des Jahrfünfts 1908/12 eine Fruchtbarkeitsziffer von 162‰ (d. h. 162 Geborene jährlich auf je 1000 gebärfähige Frauen) festgestellt, für die Rheinpfalz dagegen eine solche von 135‰; mithin beträgt die Spannung zu gunsten Niederbayerns 27‰. Wartet man aber den bevölkerungsmehrenden Erfolg, das Netto-Ergebnis, dieser so verschiedenen Fruchtbarkeitsziffern nur ein Jahr ab, so berechnet sich für die Pfalz ein Aufwuchs an einjährigen Kindern von 111‰ (= pro 1000 gebärfähige Frauen), für Niederbayern ein solcher von 115‰. Die Spannung von ursprünglich 27‰ hat sich also bereits nach einem Jahr auf 4‰ erniedrigt. Nach einem weiteren Jahr beträgt sie nur mehr 2‰, indem die Aufwuchsziffer für zweijährige Kinder sich in der Pfalz auf

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/237&oldid=- (Version vom 22.11.2023)