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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Dann wird das leider bisher so häufige Aufgehen in fremder Nationalität immer mehr deutschem Nationalstolz in der Fremde weichen. Dann werden unsere Ausgewanderten die nationale und kulturelle Gemeinschaft mit uns bewahren und werden zu dauernden Trägern des deutschen Volkstums im Auslande. Dann wird unser Wanderungsverlust im internationalen Völkerverkehr zu einer Erweiterung unserer Macht und Herrschaft, und zwar ideell, kulturell und auch wirtschaftlich. Dann ist Deutschland „die grosse Kinderstube der Welt“ zum eigenen Glück und Wohlstand unseres Vaterlandes.

III. Binnenwanderungen in Deutschland.

Mit der grossen Bevölkerungszunahme hat das innere Gefüge des Volkskörpers in mehrfacher Richtung Wandlungen erfahren. An Stelle der ehedem starken Auswanderung über die Reichsgrenzen trat eine ungeheuere Binnenwanderung, die an Umfang und Intensität die Völkerwanderung früherer Jahrhunderte, auch das verflossene „Völkerwanderungs-Jahrhundert“, weit übertrifft. Der Schauplatz der Tätigkeit des Volkes hat sich hierdurch nicht unwesentlich verschoben. Geleitet vom Streben nach besseren Futterplätzen, nach höheren Futteranteilen, wenden sich viele Elemente des Volkes von ihrem Geburts- und ihrem bisherigen Erwerbsort ab, um in Städten und industriellen Gegenden sich niederzulassen.

Infolgedessen wurde die Siedlungsweise stark verändert. Das platte Land erlitt stellenweise eine beträchtliche Entvölkerung. Die Gegenden des Westens in der Nähe von Kohle und Eisen, an den Hochstrassen des Weltverkehrs bewirkten grosse Anziehungskraft. Der Verstadtlichungsprozess machte ungemein rasche Fortschritte. Infolge der grösseren Dichtigkeit der Bevölkerung in weiten Gebieten des Reichs treffen auf 1 qkm jetzt (1910) durchschnittlich 120 Einwohner (1871: 75,9; 1890: 91,4).

Wohl sind schon früher von den ländlichen Gemeinden Besitz und Intelligenz immer wieder abgewandert. Jetzt aber folgen ihnen die langsamen und schwerfälligen Massen so zahlreich, dass die Abwanderung grosse Dimensionen annimmt und bedenkliche Erscheinungen hervorruft. Während im Jahre 1880 auf dem platten Lande (Gemeinden mit unter 2000 Einwohnern) 58,6% der Reichsbevölkerung wohnten, waren es 1910 nur mehr 40,0%. Umgekehrt stieg die Stadtbevölkerung von 41,4 auf 60,0%. Allerdings spielt bei diesen Veränderungen noch der Umstand mit, dass eine Reihe von Gemeinden sich aus kleineren Ortschaften mit unter 2000 Einwohnern zu grösseren „städtischen“ entwickelten und so einerseits zur Verminderung der ländlichen, anderseits zur Vergrösserung der städtischen Bevölkerung beitrugen. Aber zahlreiche ländliche Gemeinden sind tatsächlich im Laufe der letzten Jahrzehnte an Bevölkerung zurückgegangen. Von 8000 bayerischen Gemeinden verloren beispielsweise in der Zeit 1855/1905 2882 direkt an Einwohnern, 48 verzeichneten einen Stillstand, 500 eine Mehrung von nur höchstens 10 Personen, mithin war bei 3430 oder 43% aller bayerischer Gemeinden im verflossenen halben Jahrhundert die Entwicklung ungünstig. Diese Entwicklung ging so weit, dass ganze Bezirksämter (von 161 sind es 27) jetzt eine geringere Bevölkerungsziffer haben als vor 50 Jahren. Ähnliche Klagen sind aus Preussen, besonders aus den östlichen Gegenden Preussens bekannt.

Diese Massenabwanderung vermindert nicht nur die Leistungsfähigkeit der ländlichen Gemeinden, da gerade die jungen, arbeitskräftigen Elemente – freilich gibt es auch Minus-Varianten darunter, Gesindel, Streuner usw. – das Hauptkontingent der Abwanderung stellen. Sie bedeutet vielfach eine erhebliche Steigerung der Armenlasten, die zurückbleibenden Familienmitglieder fallen nicht selten der öffentlichen Armenpflege anheim. Unterstützungsfälle, auch noch von auswärts, überraschen die Gemeinden, nehmen die Steuerkraft übermässig in Anspruch und führen zu hohen Gemeindeumlagen und zu weiterer Abwanderung. Sie ist vor allem nicht unbedenklich in Hinblick auf die bisherige grosse Wichtigkeit der ländlichen Bevölkerung für die Volksvermehrung, die Wehrhaftigkeit und die Volksgesundheit; auch was die ländliche Bevölkerung zur Blutauffrischung für die immermehr sich verstadtlichende Bevölkerung liefern soll, fällt ihr fortgesetzt schwerer, da schon jetzt nicht nur der entbehrliche Überschuss vom platten Land abgegeben, sondern ein gut Teil des Stammkapitals an bäuerlicher Kraft mit angegriffen wird.

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/201&oldid=- (Version vom 17.9.2021)