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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

durch Entlassung oder zehnjährigen Aufenthalt im Auslande oder durch Verheiratung mit einem Ausländer oder aus anderen Gründen verloren haben, die aber trotz dieser Änderung ihres formal-rechtlichen Charakters tatsächlich vorzügliche Elemente des Deutschtums im Auslande sind. Bei der Reichserhebung vom Jahr 1900 wurde für 708 071 Personen im Auslande die Reichsangehörigkeit nachgewiesen.

Brauchbarer ist als Anhalt für unser Auslandsdeutschtum der Geburtsort, den man nicht ablegen, abstreifen, den man höchstens verleugnen kann. Freilich sind auch diese Nachweise der Personen, die das Ausland als aus dem Deutschen Reich Gebürtige verzeichnet, nicht einwandfrei. Sie skizzieren das Deutschtum nur für eine Generation, unterliegen dem Einfluss von Zufälligkeiten des Geburtsorts, umschliessen auch Angehörige fremden Volkstums, sind nur für verhältnismässig wenig Länder vorhanden und untereinander nicht gleichwertig. Wenn die amtliche Reichserhebung 1900 etwas über 3 Millionen (3 094 692) deutsche Reichsgebürtige im Auslande und von den obigen 708 071 Reichsangehörigen 457 702 nicht Reichsgebürtige aber Reichsangehörige feststellt, so repräsentieren diese rund 3½ Millionen Reichsgebürtige oder Reichsangehörige im Auslande eine Minimalzahl für die Verbreitung der Deutschen im Auslande. (Näheres darüber in meinem oben zitierten Vortrag beim Kolonialkongress 1905.)

Der Begriff Volkstum oder Nationalität geht eben viel weiter als der von Gebürtigkeit oder Staatsangehörigkeit. Er umfasst die Gesamtheit von Menschen gemeinsamer Abstammung, die ein und dieselbe Sprache sprechen, eine gemeinsame politische und kulturelle Entwicklung durchgemacht haben und das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit besitzen.

Namentlich die Sprache ist es, in der sich das Gepräge einer Nation äussert. Sie ist das Werkzeug des Denkens, an ihr haftet die Kultur mehr als am Boden, an Regierungsformen, Bauten etc., ihr folgt der Handel lieber als der Flagge.

Mangels genauer Feststellung der Sprachenverhältnisse in den einzelnen Ländern muss man sich freilich mit Schätzungen begnügen über das Auslandsdeutschtum, das – ohne Unterschied der Staatsangehörigkeit – deutsch spricht und deutsch fühlt, das sich der innern Gemeinschaft mit dem deutschen Muttervolk bewusst ist und dies durch Festhalten ihrer deutschen Muttersprache bekundet. Nach Robert Höniger ist die Zahl derer, die ausserhalb des Deutschen Reichs Deutsch als ihre Muttersprache sprechen, auf etwa 32 Millionen zu veranschlagen. Sie lassen sich in 3 Gruppen des Auslandsdeutschtums gliedern:

1. Etwa 13 Millionen Deutschösterreichs, der deutschen Schweiz und Luxemburgs, die, an das Deutsche Reich unmittelbar angrenzend, mit diesem das geschlossene deutsche Sprach- und Siedlungsgebiet Mitteleuropas bilden.

2. Die deutsche Diaspora im übrigen Europa, etwas über 5½ Millionen: davon 2½ Millionen in Ungarn, denen man im Hinblick auf die geographische Lage und unter Berücksichtigung unserer Interessen im nahen Orient die Deutschen der Balkanstaaten mit etwa 100 000 Seelen anreihen darf, weitere 2 Mill. in Russland, endlich nahe an 1 Mill. zu einem erheblichen Teil nicht bodenständiger Deutscher in den sonstigen Staaten unseres Erdteils.

3. Die Deutschen in Übersee, etwas über 13½ Millionen. Davon treffen ca. 12 Millionen auf die Vereinigten Staaten von Amerika.

An sich müsste die Zahl der Deutschen in der Union an 25 Millionen betragen, hat sich doch der weitaus grösste Teil der deutschen Auswanderer Jahrzehnte hindurch nach Nordamerika gewendet. Aber Nordamerika wurde wie kein anderes Gebiet „ein Massengrab deutschen Volkstums.“ Ein gewaltiger Bruchteil der Nachkommen der deutschen Auswanderer dorthin hat die angestammte Sprache und Art nicht behauptet. Es mangelte den deutschen Einwanderern zu sehr politischer Ehrgeiz und nationales Selbstgefühl, sie begegneten allzuoft einer niederdrückenden Geringschätzung ihres heimischen Wesens. Drum vollzog sich nicht selten schon für die erste Geschlechtsfolge die Verschmelzung mit dem rasseverwandten Angelsachsentum. Die ehemalige Zwiespältigkeit und Ohnmacht des Mutterlandes wirkte schädigend auch auf das Deutschtum im Ausland. Dies rächte sich am Mutterland selbst, das die Rolle einer wohlfeilen Kinder- und

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/199&oldid=- (Version vom 17.9.2021)