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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Im letzten Jahrzehnt 1901/10 betrug in Deutschland trotz der erwähnten Geburtenabnahme die Zahl der Geburten noch etwa 40% mehr, als zur eigenen Forterhaltung notwendig gewesen ist, während in Frankreich (1898/1903) 2,47% an der hierzu erforderlichen Geburtenzahl fehlten.

Allerdings hat die Auswanderung aus Deutschland neuerdings stark nachgelassen, so dass in den Jahren 1895/1900 und 1900/1905 sie sogar von der Einwanderung etwas übertroffen wurde.

Während in den 80er Jahren beispielsweise die überseeische Auswanderung aus dem Reich eine Höhe von über 200 000 Köpfen erreichte, beträgt sie jetzt nur noch rund 20 000. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Reiches haben eben eine derartige Erwerbsgelegenheit geschaffen, dass nicht nur die deutschen Arbeitskräfte im wesentlichen im Inland verbleiben, sondern auch noch ausländische Arbeiter hier Beschäftigung finden.

Freilich ist diese Einwanderung qualitativ kaum so hoch einzuschätzen wie die Zahl unserer deutschen Auswanderer, die an Wissen, Können, Bildung und Vermögen das Gros der Elemente von anderen Auswandererstaaten vielfach übertreffen. Die Wanderungsbilanz ist daher qualitativ trotz zeitweisen zahlenmässigen Wanderungsgewinns eher passiv als aktiv zu bewerten.

Um so mehr wird man in diesem Urteil bestärkt, wenn man sich die Elemente der zu uns kommenden ausländischen Arbeiter näher ansieht. Es sind grösstenteils Saisonarbeiter, die hauptsächlich für Feldbestellung und andere landwirtschaftliche Arbeiten verwendet werden, und Arbeiter, welche unsere Industrie, speziell die Montanindustrie und das Baugewerbe vielfach beschäftigt. Sie kommen in der Hauptsache aus Russland (Polen), Österreich (Böhmen und Galizien) und Italien, zum geringen Teil auch aus Dänemark, Holland und Belgien. Ihre Zuwanderung ist nicht ganz unbedenklich. Einmal vom Standpunkt der Rassenfrage. Es mischt sich durch diese Zuwanderer häufiger, als sonst es der Fall wäre, germanisches Blut mit polnischem, ruthenischem, italienischem und jüdischem Blut. Für die Volksgesundheit bringen sie erhöhte Gefahren von Erkrankungsmöglichkeiten. Denn die aus Russland und Österreich Kommenden sind nicht selten Träger von Pocken, Fleckfieber, Typhus, Granulose, Grind, Krätze, die Italiener Träger des Typhus, die holländischen und belgischen Gruben- und Ziegelarbeiter Träger der Wurmkrankheit. Politisch bedeuten die polnischen Elemente eine Hemmung der Germanisierung im Osten, eine Förderung der Polonisierung im Westen, eine Art nationaler Expropriierung. Und wirtschaftlich verdrängen jene Ausländer die bisherige einheimische Bevölkerung, welche dem auf dem Land ansässigen Mittelstand eine viel grössere Kaufkraft und Kauflust bedeutete als die ausländischen Arbeiter mit ihrer geringeren Lebenshaltung und dem Bestreben, ihre Ersparnisse möglichst in die eigene Heimat zurückfliessen zu lassen. Ausserdem gerät durch die Deckung unseres heimischen Arbeiterbedarfs mit Ausländern unsere Volkswirtschaft in Abhängigkeit von unseren Nachbarstaaten, die mit der intensiveren Entwicklung ihrer eigenen Volkswirtschaft und dem damit sich mehrenden eigenen Arbeiterbedarf uns leicht diesen Zuwandererstrom ablenken können, ganz abgesehen davon, dass der Zufluss jener fremden Arbeiter neuestens noch erschwert wird durch die Nachfrage anderer Länder (Frankreich, Skandinavien, Amerika, Canada).

Mit Rücksicht hierauf erheischt die Beschäftigung ausländischer Arbeiter im Inlande besondere Aufmerksamkeit seitens der Verwaltung. Soweit sie unbedingt notwendig erscheint, wie in der Landwirtschaft und in gewissen Industriezweigen, wo es sich um harte, schwere Arbeit handelt, gegen die weite Kreise des deutschen Volkes immer grössere Abneigung zeigen, wird eine dauernde Beschäftigung einer genauen Kontrolle zu unterstellen sein. Selbstverständlich kann nicht von einer etwaigen Parole „Deutschland ausschliesslich den Deutschen“ die Rede sein. Eine solche Maxime würde, wenn gleichmässig auch von den Auslandsstaaten angewandt, vor allem sich gegen die Deutschen selber kehren, die in grösserer Zahl in gut bezahlten und angesehenen Stellungen im Ausland tätig sind. Anderseits ist unter den inländischen Arbeitern ein besserer Ausgleich zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage herbeizuführen durch Ausgestaltung des Arbeitsnachweises, durch Verlegung gewisser Arbeiten (Eisenbahn-, Kanal-, Wegbauten usw.) in andere Jahreszeiten. Daneben erscheint die energische Durchführung einer inneren Kolonisation, die Kultivierung unserer Moore und Heiden, die vermehrte Ansiedlung von Bauern und Landarbeitern, die Förderung des Arbeiter-Familienlebens geboten. Hierdurch

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/197&oldid=- (Version vom 17.9.2021)