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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

und Ordnung in den Reichshaushalt zu bringen. Sie musste sich sagen, dass unter den zwei Übeln: Zerrüttung des Reichshaushaltes oder Deckung des Bedarfes durch zum Teil ungeeignete Steuern, das letztere für sie das geringere war. Zudem die Hoffnung gehegt werden konnte, dass Mängel im Steuerwesen über kurz und lang sich würden beheben lassen, während das chronische Defizit eine schwere Schädigung des Ansehens des Reiches, seines Kredites, eine Untergrabung seines Finanzwesens bedeutete.

Andere Hemmungen ergeben sich aus den wirtschaftlichen Verhältnissen. Ist ein Land genötigt, oder glaubt es genötigt zu sein, hohe Schutzzölle, namentlich auf Lebensmittel, zu errichten, so wird die Gleichmässigkeit der Belastung darunter zu leiden haben. Zwar ist die Absicht des Zolles hier eine andere als beim Finanzzoll; aber die Wirkung ist die gleiche; hier wie dort wird der Bevölkerung ein Teil ihres Einkommens entzogen und dem Staatssäckel zugeführt. Da die unbemittelten Klassen in der Regel an den Schutzzöllen schwerer zu tragen haben als die vermöglicheren, so wäre ein Ausgleich bei anderen Gliedern des Steuersystems erforderlich. Nicht selten aber unterbleibt er, weil bei den Schutzzöllen mehr die Absicht als die Wirkung ins Auge gefasst wird und weil man bei ihrer Einführung häufig auf zeitliche Beschränktheit hofft.

Auch in anderer Beziehung machen sich wirtschaftliche Rücksichten geltend. Hat man früher die geringe Belastung der Kapitalrenten damit zu rechtfertigen gesucht, dass die Kapitalisten bei starker Besteuerung dem ungastlichen Lande den Rücken kehren würden, so findet die progressive Ausgestaltung der Steuern und die Höhe der Steuersätze heute ihre Grenze in der Rücksichtnahme auf die Vermehrung des Volksvermögens, ohne die keine intensivere Landwirtschaft, kein Aufblühen der Industrie, keine Besserung der Zahlungsbilanz, keine Verbilligung des Staatskredits möglich ist. Hohen Steuern vom Luxusaufwand, die an sich berechtigt sind, tritt die Befürchtung entgegen, dass der Aufwand abnehmen oder andere Formen annehmen werde, was wieder auf die beteiligten Industrien und die in ihnen beschäftigten Personen zurückwirken müsste.

Weitere Hemmungen bereitet der Parlamentarismus. Es muss durchaus anerkannt werden, dass die Volksvertretungen, namentlich die deutschen und hier wieder besonders die Landtage, in den letzten Jahrzehnten fruchtbare und erfolgreiche Arbeit auf dem Gebiete des Steuerwesens geleistet haben, sei es dass sie der Führung fortschrittlich gesinnter Finanzminister sich anschlossen, sei es dass sie ihrerseits zu Reformen drängten. Auch ohne die treibende Kraft der sozialdemokratischen Kritik, die zudem in den Landtagen erst seit kurzer Zeit zu Worte kommt, haben die bürgerlichen Landtage in Preussen, Baden und anderen Ländern die grossen Fortschritte auf dem Gebiete des direkten Steuerwesens bewerkstelligt, von denen eben die Rede war. Die neuere Ausbildung der Einkommen- und Vermögensbesteuerung in Preussen ist trotz des Wahlzensus, die Entwicklung der Einkommen- und Erbschaftsbesteuerung in England trotz der Herrschaft der besitzenden Klassen zustande gekommen. Andererseits ist man in Frankreich, von anderen Mängeln seines Steuersystems abgesehen, nicht einmal zur Ausbildung einer lückenlosen Kapitalrentensteuer gelangt und hat das Parlament, trotz des demokratischen Wahlrechts, bis heute die Personalbesteuerung nicht zum Gesetze werden lassen. Es liegt in der Natur der Dinge, dass in der Volksvertretung Parteidoktrinen, taktische Erwägungen, Rücksichten auf die Wähler immer ein Ausschlag gebendes Gewicht haben werden. Und bei Fragen der Steuerreform, die den Geldbeutel jedes Einzelnen berühren, noch mehr als bei manchen anderen. Solche Einflüsse zeigen sich dann nicht nur in der Wahl der Steuerarten, sondern auch und oft viel mehr in den Bestimmungen über die Steuersätze, im Einsteuerungsverfahren und dergl. mehr. Es sei an die Erfahrungen erinnert, die mit der preussischen Kommunalbesteuerung gemacht wurden. Wo der Grund- und Hausbesitz eine starke Vertretung in den Gemeinden hat, wird die Neigung bestehen, die Personalbesteuerung in höherem Masse in Anspruch zu nehmen als die Besteuerung des Realbesitzes. In Staaten mit vorwiegend agrarischem Charakter wird, wie die jüngsten Vorgänge in Bayern zeigen, mobiles Kapital, Industrie, städtischer Hausbesitz meist stärker angefasst. Vollends wo die Einkünfte, wie im Deutschen Reich, vorwiegend aus Verbrauchssteuern erbracht werden, ist nicht nur mit der Abneigung der breiten Massen und ihrer Vertreter zu kämpfen, sondern es greifen auch die betreffenden Produzentengruppen und ihre Organisationen ein. Es beginnt ein Kampf aller gegen alle, in dem nicht immer die besseren Gründe, sondern häufig die grössere Stärke und Geschicklichkeit in der Agitation, der

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/157&oldid=- (Version vom 14.9.2021)