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erste Mal überhaupt Stimmen oder wenigstens unter denen, die das erste Mal ein gewisses Stimmenminimum (in Baden 15% der abgegebenen Stimmen) erhielten, gewählt werden.

Bei der romanischen Wahl sind die Wähler beim zweiten Wahlgange völlig frei. Er stellt eine neue Wahl dar. Romanische Wahl gilt in Württemberg für die Wahlen der Oberamtsbezirke und Städte, Stuttgart ausgenommen, in Elsass-Lothringen für alle Wahlkreise.

Englisch-amerikanisches System ist: relative Mehrheit bereits im ersten Wahlgange. Bayern nahm das System 1906 an in Verbindung mit romanischer Wahl in der Nachwahl; doch fordert Bayern im ersten Wahlgange für die relative Mehrheit ein höheres Stimmenminimum (ein Drittel der Stimmen). Immerhin können dabei 3001 geschlossene Wähler über 6000 gespaltene siegen.


IV. Abstimmungssysteme der Verhältniswahl. Die eine Hauptfrage des Proporz-Prinzips ist: wie wird erreicht, dass die Minderheiten eine hohe Stimmenzahl erlangen? Die einen Systeme wollen die Bildung grosser Minderheiten fördern, die anderen die Freiheit des Wählers möglichst schützen.

Möglichst hohe Stimmenzahl wird gewonnen, wenn die Wähler an die Parteilisten streng gebunden, also freie Listen, Streichen, Panachieren verboten sind. Die Freiheit des Wählers ist geschützt, wenn das Gegenteil der Fall ist.

A) Proportionale Einzel- und proportionale Listenwahl. Zum Wesen der Verhältniswahl gehört der mehrmännige Wahlkreis; denn auch die Minderheiten sollen Mandate erhalten. Listenwahl im Sinne der Wahl durch mehrmännige Wahlkreise ist dabei also immer gegeben. Die Proportionalwahl kann nun aber weiter ohne amtlich eingereichte Parteivorschläge oder mit solchen geschehen. Im ersten Falle spricht man von proportionaler Einzelwahl, im anderen Falle von proportionaler Listenwahl (Verhältniswahl mit Listenkonkurrenz). Listenwahl heisst hier nicht Wahl in Wahlkreisen für mehr als 1 Mandat, sondern Wahl mit Kandidatenlisten der Parteien. Einzelwahl dient der Freiheit der Wähler, aber führt zu grosser Stimmenzersplitterung. Sie gilt nur für die erste Kammer in Dänemark.

B) Einnamige und mehrnamige Listenwahl, je nachdem der Wähler aus den Parteilisten nur für ein oder für mehrere Mandate des Wahlkreises (alle oder die Hälfte usw.) wählen darf. Riesen-Wahlkreise sind nur möglich bei einnamiger Stimmgebung. Sonst dauert das Stimmenzählen zu lange.

C) Gebundene und freie Listen. Der Wähler ist an die Parteilisten gebunden und zwar entweder streng oder loser. Hier darf er dann die Reihenfolge ändern, um ihm genehme Parteigenossen weiter vorzubringen, und (ihm nicht genehme Namen) streichen. Auch das Freilistensystem hat Grade: entweder darf der Wähler nur aus Parteilisten wählen, aber seine Liste aus Listen verschiedener Parteien zusammensetzen, die Listen sprenkeln, panachieren (gemischte Listen), oder er darf seine Liste ganz nach eigenem Ermessen bilden (wilde Listen). Panachieren ist eine Konzession an die Wählerfreiheit, die dem Wesen des Proporzes widerspricht. Denn in dem durch das Sprenkeln auch Nichtparteianhänger auf die Liste kommen, wird nicht nach der wirklichen Stimmstärke verteilt.

D) Kumulieren. Dem Wähler wird erlaubt, alle oder einen Teil seiner mehreren Stimmen auf einen oder einige Kandidaten zu häufen. Minderheiten soll dadurch ermöglicht werden, wenigstens zu einem Mandate zu gelangen. Daher wird das Häufen gewöhnlich schon auf den Parteilisten vorgeschlagen. Man verringert dadurch die Gefahr, dass von Andersgesinnten das Recht des Streichens und Panachierens zu einer Verhinderung der Wahl derjenigen Kandidaten angewendet wird, welche die Partei in erster Reihe gewählt wünscht (Führer) und daher an den Kopf der Parteiliste stellt. Ein Verhindern der Wahl der Führer durch Streichen und Sprenkeln heisst die Liste köpfen, dekapitieren. Parteigenossen können dies tun, aber auch gegnerische Parteien, die bedeutend stärker sind. Sie sprenkeln ihre Liste mit minder bedeutenden Kandidaten der Gegenpartei. Dann würden diese und nicht die Führer Mandate erhalten.

E) Listenkoppelung (Listenverschwägerung, apparentement des listes). Verbundene Wahlvorschläge (verbundene, Kompromiss-, gekoppelte Listen) sind die Form des Wahlbündnisses

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/460&oldid=- (Version vom 28.8.2021)