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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Verfassungsschranke der österreichischen Ländergruppe aufgestellt, den ehemals engeren Reichsrat zum verfassungsmässigen Reichsrat der nichtungarischen Länder erhoben und zur Konformierung ihrer Verfassung mit seinem bei den Ungarn durchgesetzten Kompromiss berufen, er hat die deutsch-zentralistische Partei den modernen Rechtsstaat errichten lassen und sie zertrümmert, als sie sich als parlamentarische Macht aufspielte, er hat die Arbeiterbataillone vor den tagenden Reichsrat vorüber ziehen lassen, um für die Notwendigkeit des allgemeinen gleichen Wahlrechts zu demonstrieren und Ungarn durch das Aufwerfen des gleichen Problems zur Besinnung gebracht; er hat die Notverordnung zur subsidiären, die Unschädlichkeit der Obstruktion sichernden Gesetzgebung erhoben; seine Annexionsakte allein sind es, die Bosnien und die Herzegowina mit der Monarchie verbinden, da die beiden Parlamente sich für ihre staatsrechtliche Perfektion unfähig erweisen; er hat eine Verfassung für die annektierten Länder erlassen, ohne sich auf eine ausdrückliche Verfassungsermächtigung berufen zu können und für die durch die deutsche Obstruktion zerstörte Landesselbstverwaltung Böhmens sofort durch Ordonnanz ein Ersatzorgan geschaffen. Er vermag, die Monarchie als Staat den Staaten entgegenzustellen, ungeachtet die formale Jurisprudenz diesen Staat nirgend sehen will.

Jedenfalls ist die Monarchie für die politische Schätzung als eine patrialarchalisch, in den äusseren Formen des Konstitutionalismus regierter und nur den Schein zweier Staaten bietender monarchischer Einheitsstaat zu betrachten. Weil die Völker der Monarchie trotz ihres durch ethnische, kulturelle, wirtschaftliche und politische Gründe bewirkten Zusammenschlusses bis nun kein für eine Konstituante fähiges Staatsvolk geworden sind, bilden sie nur ein Organisationsobjekt. Der Dualismus ist das vorläufige Ergebnis organisatorischer, mittels diktatorischer und halbdiktatorischer Akte vollzogener Experimente des Monarchen. Er findet ganz wie die als seine unselbständige Reflexwirkung zu wertende österreichische Dezemberverfassung seine Garantie in der Zersplitterung der national-föderalistischen Programme, die nur vom Standpunkte der einzelnen Nation aufgestellt werden und das Ganze aus den Augen verlieren, und gibt, was seltsamer Weise die der ungarischen Unabhängigkeitspartei angehörige Minorität des Ausschusses zur Beratung des Ausgleichs in ihrem Gegenentwurf geradezu ausdrücklich gefordert hat, dem Monarchen den Stichentscheid in die Hand, der nicht nach Rechtsnormen sondern gemäss der jeweiligen Gestaltung der politischen Verhältnisse gefällt wird. Das Rechtsleben der Monarchie bietet uns nicht Verfassungsänderungen und Verfassungswandlungen, sondern unberechenbare äussere Verfassungsfluktuationen, die jedoch an ihrem inneren Wesen nichts zu ändern vermögen. Die Erinnerung an das unorganische Leben des Ständestaates mit seinen durch ständische Rivalitäten zerklüfteten, von Sezessionen heimgesuchten Landtagen, mit seinen stetigen Verfassungsrevisionen taucht unwillkürlich auf. Hier ist darum, was allmählich auch die magyarischen Publizisten einzusehen beginnen, kein Boden, auf dem formal juristische Konstruktionen und die Theorie vom absoluten Rechts- oder Verfassungsstaat zu gedeihen vermöchte, es sei denn, dass man die durch die pragmatische Sanktion dem Monarchen in die Hand gelegte koerzitive Funktion, diese welthistorische, an das Caveant consules erinnernde, aus dem Urquell des Rechts der Monarchie und deren Mysterium fliessende Generalvollmacht, kraft deren er alle Länder des Hauses Oesterreich unzertrennt und ungeteilt beisammenhalten, oder wie sich die Proklamation des österreichischen Kaisertitels vom 11. August 1804 ausdrückt, Regent der Monarchie von Oesterreich (Monarchiae Austriacae regnans princeps) sein soll, als zwingendes Recht anerkennt, dem gegenüber alles dieser Funktion widerstrebende Recht als rechtlich unmöglich oder nichtig oder mindestens als unvollziehbar zu behandeln ist.



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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/435&oldid=- (Version vom 22.8.2021)