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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Das deutsche System der Spezialbefragung, das auf der Fortbildung des französischen durch Überweisung der vollen Schuldfrage an die Geschworenen beruht und in den Hauptpunkten mit dem österreichischen Rechte übereinstimmt, scheidet drei Fragarten. Die Hauptfrage geht dahin, ob der Angeklagte sich des bestimmten bei Eröffnung des Hauptverfahrens angenommenen Verbrechens nach Massgabe der Tatbeschreibung im Gesetze, z.B. der vorsätzlichen, mit Überlegung ausgeführten Tötung eines Menschen schuldig gemacht habe. Eine Hilfsfrage („Eventualfrage“ in Österreich) tritt hinzu, wenn nach dem Verhandlungsergebnis mit einer andern als der bisherigen Beurteilung der Tat. z. B. mit Annahme von Erpressung statt Raubes, zu rechnen ist. Bejahung der Hauptfrage macht die Hilfsfrage abfällig. Nebenfragen („Zusatzfragen“ in Österreich, hier in noch weiterer Verwendung[1]) richten sich auf Erschwerungsgründe (Einbruch beim Diebstahl), Milderungsgründe (Reizung als Totschlagsanlass) oder Strafaufhebungsgründe, die für bestimmte Delikte gesetzlich anerkannt sind (Löschen des Brandes vor Entdeckung pp.). Nebenfragen setzen Bejahung der Hauptfrage voraus. Eine Mehrzahl von Angeklagten oder von strafbaren Handlungen führt zu der entsprechenden Zahl getrennter Schuldfragen (in Österreich nicht scharf durchgeführt).

Die starke Vernachlässigung der Fragstellungslehre in der Literatur hat zu der Meinung geführt (v. Hye-Glunek, Schwarze, H. Meyer pp.), dass sie ein unlösbares Problem sei.

Die Präzisierung und Gliederung des Beurteilungsstoffes in den Fragen und die Rechtsbelehrung der Geschworenen durch den Vorsitzenden verhüten keineswegs immer formell oder materiell mangelhafte Antworten, einen unvollständigen, einzelne Fragen, Fragteile nicht erledigenden oder sich widersprechenden, z. B. die Haupt- und Hilfsfrage, obwohl diese einander ausschliessen, zugleich bejahenden Spruch. Die Geschworenen sind dann unter Einleitung des Berichtigungs-Verfahrens (in Frankreich auf der Praxis beruhend, sonst gesetzlich bestimmt) zur Behebung des Fehlers zu veranlassen. Nur ein von solchen Mängeln freier Spruch kann Grundlage des Urteils sein.

In England wird der Wahrspruch mündlich abgegeben und erst protokolliert, nachdem etwaige Bedenken, Unklarheiten durch Befragung der Geschworenen und eventuell durch Änderung des Spruchs ihrerseits gehoben worden sind; ein formelles Berichtigungsverfahren ist bei dem freien Verkehr zwischen Richter und Jury erübrigt.

Die Beweiswürdigung und die Gesetzesauslegung der Geschworenen sind an sich nicht Gegenstand richterlicher Nachprüfung. Doch kann der Spruch abgewiesen werden, wenn sich nach einstimmiger Ansicht der Richter die Geschworenen in der Hauptsache zum Nachteil des Angeklagten geirrt haben (code 352, Ges. 9. 6. 1853 lässt Mehrheit der Richter genügen; österr. 332; Ungarn 371, Deutsch. Reich 317; Italien 509: mit Beschränkung auf Mehrheits-Wahrspruch, erweitert durch ital. E. 1909 art. 42). Dann endgültiger Entscheid durch eine Jury der nächsten Session, möchte der neue Spruch auch ebenso oder noch schärfer (Beschränkungen in letzterer Hinsicht nach französ., Österreich, pp. Praxis) ausfallen. Bei der Zweischneidigkeit der Massregel hätte der deutsche E. nicht von Irrtum „in der Hauptsache“ absehen sollen.[2]

Wenn der engl. Richter gegenüber einem seiner charge widersprechenden verurteilenden Verdikt einen anderen Spruch fordert, kommt’s nicht zur Verweisung; die Jury fügt sich.

Deutsch. Reich (262, 297, 307) fordert ⅔-Mehrheit und deren Konstatierung im Spruch, soweit die Schuldfrage zum Nachteil des Angeklagten entschieden wird (ebenso die grosse Mehrzahl der frühern deutsch. Ges. im Gegensatz zu franz. Ges. 9. 6. 1853: einfache Mehrheit); österr. 329 (ähnlich Ungarn 368) lässt, sonst übereinstimmend, zur Verneinung von Strafausschliessungs- und Milderungs-Gründen einfache Mehrheit genügen.

Dem Wahrspruch gehen voran die Vorträge der Parteien zur Schuldfrage, zwischen Wahrspruch und Urteil liegen ihre Ausführungen zur Straffrage. Anders die engl. Hauptverhandlung, die ein gesondertes Stadium des Plädierens nicht kennt, die Aufgabe der Parteien in die Beweisführung konzentriert (wohltuende Sachlichkeit der Partei-Ausführungen gegenüber der französ. Rhetorik).

Den Vorträgen zur Schuldfrage wird nach deutsch-österreichischem (ungarischem) Rechte (und ital. E. 09 art. 39, 40) durch die zuvor (diese zweckmässige Folge empfohlen von Walther pp.; anders Italien, Norwegen) – unter Beteiligung der Parteien (so weitgehend ital. E. 09 art. 39)


  1. 319 (Ungarn 358) lässt Zusatzfragen auf Schuldausschliessungsgründe zu. Allein Trennung der einen Schuldfrage in der Abstimmung kann zu verschieden zusammengesetzten Mehrheiten für die einzelnen Teile und somit leicht zu einer Scheinmehrheit für die Schuldannahme führen.
  2. Besser als Verweisung wäre eigene Entscheidung der bezüglichen Schuldfrage durch das Gericht zugunsten des Angeklagten.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/386&oldid=- (Version vom 18.8.2021)