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gesetzlich höchstens durch eine kautschukartige Formel (etwa, wie in den Beamtengesetzen „achtungswürdiges Verhalten“) umschrieben werden kann. Soweit hiernach das Gesetz die exakte Antwort auf die Frage nach Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Verhaltens bestimmter Art schuldig bleibt oder eine Handlung zur „Ermessenssache“ stempelt, müssen notwendigerweise Werturteile, also Zweckmässigkeitserwägungen die Direktive für das Handeln abgeben.

Solche nach Tunlichkeit zu objektivierende Zweckmässigkeitserwägungen müssen im Strafprozess namentlich dahin führen, dass – im Grunde genommen alles Trivialitäten! – die Behörden leidenschafts- und vorurteilslos verfahren, namentlich nicht vor vollem Abschluss der Beweisaufnahme einen Beschuldigten als Schuldigen, einen Zeugen als unglaubwürdig behandeln; dass Parteipolitik und Klassenjustiz keinen Eingang in den Gerichtssaal finden, dass jedermann ohne Ansehen des Standes, der politischen Parteistellung und seiner sozialen Stellung gleich höflich und seinem Alter, seinen Gesundheitsverhältnissen pp. entsprechend, aber auch ohne privilegierende Auszeichnung (Entbindung von Betreten der Anklagebank, Anrede als „Herr“ Angeklagter) behandelt wird ; dass auch der leiseste Schein der Unaufmerksamkeit, der Überhastung oder Ungründlichkeit vermieden wird[1] usw.

Für die Haltung der Staatsanwaltschaft ist namentlich eins zu betonen: sie hat gegenüber den Strafanträgen wegen übler Nachrede (oder Verleumdung) auch dann grösste Zurückhaltung zu üben, wenn jene von sozial Höhergestellten oder amtlichen Stellen ausgehen. Hat jemand, etwa in einer Zeitung, gegen einen Privaten oder Beamten einen Vorwurf inkorrekten Verhaltens erhoben, so muss die erste Aufgabe die sein, der Richtigkeit dieser Anschuldigung auf den Grund zu gehen und gegebenenfalls eine umfassende Strafverfolgung in dieser Richtung eintreten zu lassen. Es ist verkehrt, den Spiess umzukehren und gegen den, der den betr. Vorwurf erhoben hat, sogleich auf Grund mehr oder weniger oberflächlicher Erhebungen die Beleidigungsklage zu erheben. Das Fiasko, das solche Beleidigungsklagen häufig erleben, wie manche Vorkommnisse der letzten Zeit zeigen, ist für das Ansehen der Behörde ebenso abträglich, wie es unbillig und sachwidrig ist, denjenigen ans Messer zu liefern, der ein Geschwür aufgedeckt hat, statt an das Geschwür selbst zu rühren!

Endlich ist aber auch Behörden aller Art ausserhalb staatsanwaltschaftlicher und richterlicher Funktionen vielfältige rechtliche Möglichkeit gegeben, durch Ermessensentscheidungen fördernd oder hemmend auf den Strafrechtsschutz einzuwirken: sie sind nicht selten vor die Frage gestellt, ob sie einen Strafantrag stellen, ob sie einem zugehörigen Beamten die Zeugenaussage oder die Tätigkeit als Sachverständiger ermöglichen, ob sie Benutzung ihrer Akten zu Prozesszwecken gestatten sollen, ohne dass dabei die Entschliessung durchweg durch feste gesetzliche Direktiven geregelt wäre. In derartigen Sachlagen liegt – psychologisch sehr begreiflich – für die Behörde die Versuchung nahe, ihr spezifisch behördliches Interesse massgebend sein zu lassen, z. B. Zeugenaussagen durch Beamte und Akteneinsicht deshalb zu inhibieren, weil anderenfalls Fehlgriffe von Beamten ans Tageslicht treten würden. Es bedarf keiner Ausführung, dass solche Praxis ebenso bureaukratisch engherzig ist, wie sie dem Gesamtwohl abträglich sein muss, und dass speziell das Amtsgeheimnis nicht Selbstzweck sein darf. Das behördliche Interesse ist hier wie immer als ein nur abgeleitetes zu werten. Auch hier muss sich die Entschliessung auf die Höhe der Staatskunst überhaupt erheben: salus rei publicae suprema lex.




  1. Es ist zu missbilligen, dass sich ein Richter während der Verhandlung anderweit, etwa mit Lesen von Akten, beschäftigt. Zu widerraten auch die flüsternde oder auf konkludente Verständigung durch Kopfnicken usw. beschränkte Beratung des Kollegiums im Sitzungssaal. Geradezu peinlich und erbitternd wirkt es, wenn diese „Beratung“ nur einen Augenblick währt und nur in einem Austauschen von Blicken besteht. Wer wollte es hier dem Unbeteiligten verargen, wenn er ein vor Eintritt in die Verhandlung abgekartetes Spiel wittert!
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/382&oldid=- (Version vom 14.8.2021)