Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/375

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Der Versuch, die Politik der Strafrechtspflege von innen heraus aufzubauen, soll im Folgenden unternommen werden.

Der nachfolgenden Untersuchung sind indes enge Grenzen gesteckt: quantitativ insofern, als es sich lediglich um eine Skizze handelt; qualitativ insofern, als lediglich die „Strafrechtspflege“ in politische Beleuchtung gerückt werden soll. Das letztere will freilich nicht sagen, dass von den sog. politischen Prozessen und nur von ihnen zu handeln wäre. Mit dieser Bezeichnung belegt man in der Regel solche Prozesse, bei denen die in Rede stehende Tat als sog. politisches Delikt (etwa Hochverrat) in Frage kommt oder unter Begleitumständen begangen ist, die der ihrer juristischen Wesensart nach ein unpolitisches Delikt (z. B. Beleidigung, Meineid) darstellenden Tat einen politischen Einschlag geben. In solchen Fällen liegen die politischen Gesichtspunkte auf dem Felde des materiellen Strafrechts, nicht auf dem der Strafrechtspflege. Letztere fordert zu politischer Betrachtung aber auch da heraus, wo der Gegenstand des Prozesses eine Tat ohne jede politische Bedeutung ist. Beispielsweise taucht die Frage nach den Grenzen der Verteidigung als eine strafrechtspflegepolitische auch da auf, wo ein des politischen Interesses ganz entbehrender Diebstahl zur Untersuchung gezogen wird. Aber auch dann, wenn man diejenigen Prozesse „politische“ nennen wollte, an denen Persönlichkeiten in politischer Stellung irgendwie als Beschuldigte, Zeugen pp. beteiligt sind oder das prozessualische Handeln in die politische Region, etwa in Parlamentsgebäude übergreift, würde sich die Strafjustizpolitik nicht auf sie zu beschränken haben: auch wo all solche Umstände fehlen, behalten die für die Strafrechtspflege auftretenden Probleme ihren besonderen politischen Charakter. Die politischen Prozesse dieser oder jener Art mögen vielleicht zu besonderen strafjustizpolitischen Erwägungen Anlass geben (Öffentlichkeit der Verhandlung, Fesselung des Angeklagten usw.). Aber das Objekt der Strafrechtspflegepolitik bildet das kriminelle Prozessieren überhaupt. Es gilt festzustellen, wie die zum Strafrechtsschutz berufenen Einrichtungen beschaffen sein und wie sie wirken sollen.

Rein theoretisch müsste das Programm freilich dahin eine Erweiterung erfahren, dass nach dem „0b“ einer Strafrechtspflege überhaupt gefragt würde. Aber praktisch erledigt sich diese Frage. Es liegt im Wesen der Strafrechtsordnung, wenigstens sobald sie die ältere Entwicklungsstufe der Privatstrafe überwunden hat, dass sie sich nicht anders als durch das Eingreifen der öffentlichen Gewalt durchzudrücken vermag. Ohne Eingreifen der Strafrechtspflege wäre die Strafrechtsordnung selbst verloren.

Auf dem hiernach umrissenen Raum spaltet sich die Untersuchung in zwei Gedankenreihen. Die eine zielt dahin ab, klar zu stellen, wie die Gesetze beschaffen sein sollen, die für die Strafrechtspflegeeinrichtungen und ihr Wirken massgebend sein sollen. Die andere geht hinaus auf Richtschnuren für die Staatsorgane da, wo die Gesetze dem Handeln Raum lassen und auf Ermessen und Zweckmässigkeitserwägungen abstellen. Die Strafrechtspflegepolitik im ersteren Sinne kann als die Strafprozessrechtspolitik bezeichnet werden. Bei den Erwägungen der zweiten Art handelt es sich um ein Stück Staatskunst; es mag gestattet sein, von einer Politik der Strafrechtspraxis zu sprechen.

Diese Scheidung ist freilich nicht dahin zu verstehen, als stehe von vornherein fest, in welchem Masse die Strafjustiz gesetzlich festzulegen sei, und von wo ab bei ihr den Staatsorganen freie Hand zu lassen sei. Im Gegenteil setzen schon hier die Meinungsverschiedenheiten ein. Soll das Gesetz möglichst wenig oder soll es tunlichst alles in feste Regeln giessen? Unzweifelhaft geht heute eine starke Strömung dahin, die starre gesetzliche Regelung mit ihrem unvermeidlichen Formalismus nach Möglichkeit zurückzudrängen.[1] In der Tat ist auch nicht zu verkennen, dass die Gesetzesregel mit ihrem Formenzwang, ihrem Fristenzwang usw., mit ihrer Gleichmacherei und Abstraktion den Lebensinteressen abträglich sein kann. Aber die Gesetzesfessel ist auf der anderen Seite auch ein Schutz gegen Willkür und schiefe Interessenwägungen durch die Justizorgane, sowie ein Schutz dieser letzteren gegen den Vorwurf der Willkür oder Verkehrtheit der Entscheidungen; und insonderheit gewährleistet nur das feste


  1. Über die Zusammenhänge dieser Bewegung mit der nach „freier Rechtsfindung“ bei der Auslegung drängenden vgl. Rich. Schmidt, Richtervereine 1911.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/375&oldid=- (Version vom 14.8.2021)