Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/362

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

den Gedanken teilweise verwirklichte, ist der Vortermin für die deutsche Prozessreform gefordert worden, und neuerdings haben die Untersuchungen des englischen Gerichtswesens wieder dargetan, wie notwendig die gründliche Instruktion des Prozesses vor einem Richter-Gehilfen für das glatte Funktionieren eines Verfahrens mit konzentrierter mündlicher Verhandlung ist. Vor einer Übertragung dieses Vorbereitungsstadiums an einen Einzelrichter dürfte man allerdings dann auch im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht zurückschrecken. Hier wie überall wird die resolute Übersetzung von heimlichen Prozessgebräuchen in offenes Gesetzesrecht nur gut wirken können; was jetzt doch in vielen Fällen der Referent des Kollegiums hinter dem Rücken der Prozessordnung tut, das könnte der Instruktionsrichter im mündlichen oder schriftlichen Vorverfahren besser leisten.

14. An zwei Abschnitten der Prozessordnung sind die Novellen zur Z.P.O., die sonst wenig Steine aufeinander Hessen, fast ohne jeden Eingriff vorbeigegangen: am ganzen Beweisrecht und an dem formellen Vollstreckungsrecht. Für das Beweisrecht hat das seinen Grund wohl in der eben schon berührten Herrschaft der Praxis über die Gestaltung des Verfahrens, der gegenüber ein besseres oder schlechteres Gesetz verhältnismässig wenig bedeutet. Sie ist über den öden Schematismus der Beweismittel, dem die Z.P.O. verfallen ist und der sich am übelsten im Urkundenprozess äussert, ohne Schwierigkeit weggekommen; sie arbeitet ganz selbstverständlich mit der Erkenntnis, dass der Sachverständige Gehilfe des Richters und nicht Beweismittel gleich der Urkunde oder dem Augenscheinsobjekt ist; sie weiss durch die Autorität, die sie der Durchführung des Augenscheinsbeweises gibt, das Fehlen jeglichen Zwangsmittels gegen den Besitzer des Objekts im allgemeinen gut zu machen; sie geht an den Schwerfälligkeiten der Urkunden-Beweisführung, wenn die Urkunde sich in den Händen einer Behörde befindet, auf dem Weg der Rechtshilfe-Requisition (G.V.G. § 169) vorbei und gleicht so die sonderbare Verschiedenheit zum Teil aus, die in den §§ 142, 143 einerseits und § 144 andererseits zwischen dem Beweis durch Urkunde und dem Augenscheinsbeweis statuiert ist; sie macht auch vielfach den richterlichen Eid zu dem, was er ist, was er aber nach der Fassung der ihn regelnden Vorschriften der Prozessordnung durchaus nicht zu sein scheint: nämlich zu einem völligen aliud gegenüber dem zugeschobenen Eid und überhaupt den Partei-Beweisen. Machtlos ist sie natürlich gegenüber den Missständen, die sich aus der strafrechtlichen Regelung der Eidesdelikte in ihrem Verhältnis (oder vielmehr ihrem Missverhältnis) zu der Eidespflicht der Zeugen und Parteien im Zivilprozess ergeben.

15. Das Schmerzenskind des deutschen Prozesses ist, trotz mancher Besserungsversuche der letzten Novellen, das Versäumnisverfahren, zusammen mit dem unbeschränkten Recht der Parteien, Vertagung zu erzwingen und den Prozess ruhen zu lassen. An der Erkenntnis des Übels fehlt es wahrhaftig hier nicht. Es ist ein öffentliches Ärgernis, dass die Parteien, die vom Gericht die volle Bereitschaft zum Gehör der anberaumten Sache fordern, ohne jeden Grund, ja ohne jede Nachricht einfach ausbleiben können, um am Tag darauf wieder gebieterisch einen neuen Termin zur nächsten möglichen Zeit zu verlangen; ein Ärgernis, dass die erschienene Partei aus Rücksicht auf ihren säumigen Gegner, aber mit der dazu gehörenden Rücksichtslosigkeit gegenüber der Justiz, dem Gericht sagen kann: ich bin zwar hier, aber ich verhandle nicht, und dadurch das Gericht zwingt, sie nun auch als nicht erschienen zu behandeln. Wie ist dem abzuhelfen? Die Prozessverjährung und die Zurückstellung des nicht ordentlich betriebenen Prozesses hinter die anderen anhängigen Sachen für die fernere Behandlung ist, nach ausländischem Muster empfohlen, bei uns stets abgelehnt worden; bedenklich ist in der Tat, dass insbesondere das zweite von diesen Mitteln eine Reihe überjähriger Prozesse schafft, die doch schliesslich wieder anderen Rechtsstreitigkeiten die öffentliche Zeit der Rechtsschutzstelle wegnehmen und einer straffen Geschäftsleitung bei den Gerichten im Weg sind. Man braucht radikalere Hilfe; sie ist zu finden in der Klagabweisung beim Nichterscheinen oder Nichtverhandeln des Klägers, ohne Rücksicht auf Säumnis des Beklagten, nur mit dem Modus, dass das Gericht eine vom Kläger beantragte Vertagung nach seinem Ermessen statt der Klageabweisung verwilligen könnte, wenn die Partei sachliche Gründe für diesen Antrag bringt (sachlich dabei im Gegensatz insbesondere zum persönlichen Zeitmangel der Partei oder ihres Vertreters gedacht). Schon eine Abweisung durch Prozessurteil würde die Parteien zu schärferem Prozessbetrieb

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/362&oldid=- (Version vom 7.8.2021)