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Gesetzes erlassen hat, so hat es schlechterdings keinen Sinn, jene rechtsbildenden Faktoren nun sich an den Folgen der Gesetzesverletzung betätigen zu lassen oder ihnen die „Sanktion“ des Gesetzgebergebots zu übertragen. Im Gegenteil hiesse das den Bock zum Gärtner machen. In der deutschen Z.P.O. ist die absolute Nichtigkeit von Prozesshandlungen überhaupt nicht geregelt, und die Bestimmungen des § 295 über die Mängelrüge, des § 567 über die Zulässigkeit der Beschwerde (ebenso der §§ 766 und 793 über Beschwerde in der Zwangsvollstreckung und Vollstreckungsbeschwerde) und über die Nichtigkeitsklage aus § 579 Z. 4 sind wahre Muster unklarer, den Laien ganz unverständlicher und für den Juristen als Kontroversenherde berüchtigter Gesetzesvorschriften. Andererseits wird dieser Mangel des Gesetzes selbst, der bei der Methode der Gesetzgebung unserer Zeit und dem schlechten Stand der legislativen Technik kaum zu beseitigen ist, in etwas dadurch ausgeglichen, dass dem Gericht und dem Gerichtsschreiber für das amtsgerichtliche Verfahren die Rechtsbelehrung der Partei und die Mitwirkung bei der rechtlich wirksamen Formulierung ihres Willens vorgeschrieben und in der Zwangsvollstreckung den ausführenden gerichtlichen Organen die Offizialprüfung der Gläubigeranträge und Aufträge in weitem Mass zur Pflicht gemacht ist.

Ein anderer fühlbarer Mangel der Gesetzestechnik haftet der Z.P.O. seit der Novelle von 1900 an. Während eine gute Prozessordnung jedem Anspruch, gleichviel welchem bürgerlichen Recht er nach Entstehung und weiteren Schicksalen zugehört, wirksamen Schutz gegen Gefährdung und Verletzung durch richterliche Prüfung, Urteil und Vollstreckung gewähren sollte, sind jetzt in der deutschen Z.P.O. eine Reihe von Vorschriften auf Vorschriften des gleichzeitig mit der Novelle in Kraft getretenen B.G.B. so eng zugeschnitten, dass sie bei Ansprüchen, die materiellrechtlich nicht unter der Herrschaft des B.G.B. stehen, unanwendbar sind; da aber die Jurisdiktion der deutschen Gerichte sich nicht im geringsten mit dem Herrschaftsbereich des B.G.B. deckt, vielmehr, insbesondere durch die stete Erweiterung der sog. dispositiven Zuständigkeit in den neueren Prozessgesetzen, grundsätzlich ausländische Rechtsverhältnisse ebenso gut wie inländische vor den deutschen Richter kommen können, so entstehen durch jene, mit dem B.G.B. zusammengewachsenen Vorschriften der inländischen Prozessordnung notwendig Inkongruenzen und Lücken.

Da wo die Prozessordnung technische Ausdrücke in ihren Vorschriften verwendet, die sonst hauptsächlich im materiellen Zivilrecht vorkommen (z. B. Wohnsitz, Auftrag, Anspruch, Gläubiger und Schuldner, Rechtsnachfolge, Veräusserung, Abtretung, guter Glaube, Erbfolge, Verein und Gesellschaft, unbewegliche Sache, Forderung, Berechtigung – um nur einiges zu nennen), da ist der mit dem Ausdruck zu verbindende Begriff in erster Linie aus dem Zusammenhang der Prozessordnungsvorschriften, also nach der prozessualen ratio legis zu bestimmen, und nicht nach dem zufällig im gleichen Staatsgebiete koexistenten Zivilgesetzbuch (Vgl. Rhein. Z. 4 1 fgde.).

Schliesslich ist einer anderen sehr bedenklichen Folge unseres Kodifikationssystems zu gedenken: des zwischen zwei Gesetze Fallens der Grenzmaterien, deren Behandlung dann doch den sonst ganz auf die Anwendung geschriebener Gesetze eingeübten Praktikern überlassen bleiben muss. Aus der langen Reihe solcher zwischen Z.P.O. und B.G.B. durchgefallenen Rechtsfragen nenne ich wenigstens die drei wichtigsten: die der materiellrechtlichen Vertretungsmacht in ihrem Verhältnis zur Parteistellung des Prozesses, die der ganzen Beweislast und die der materiellen Wirkungen des Urteils – denn die Ansätze zu einer Regelung der beiden letzteren Materien im B.G.B. und der Z.P.O. sind zu kümmerlich, um selbst der kräftigsten Analogie-Auslegung einen Halt zu geben.

12. Besondere Aufmerksamkeit wendet man, unter dem Einfluss rechtsvergleichender Darstellungen des angloamerikanischen Rechts gegenüber den europäisch-kontinentalen Systemen, der Erscheinung der Gerichtsregeln zu, die, ein fest redigierter stilus curiae für die Form des Verfahrens, das eigentliche Gesetz entlasten und ihm gegenüber den doppelten Vorteil der Abfassung durch die Sachkundigsten und der leichten Abänderlichkeit und Ergänzungsfähigkeit tragen, während man auf der andern Seite zu ihren Nachteilen eine durch dieses System geweckte übermässige Regulierungslust der Gerichte und die Gefahr des Erstickens der grossen Prozessgrundsätze unter den kleinen Formregeln zählt. Mit der grosseren Dezentralisierung in der Gerichtsverfassung und der feineren Differenzierung der Verfahrensarten nach den Arten der Streitsachen wird die Einführung und Handhabung des Regel-Systems immer schwieriger. (Sehr warm für das Regel-System

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/360&oldid=- (Version vom 7.8.2021)