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dem Fall des präjudiziellen Urteils in allem wesentlichen gleichsteht. Das geschieht bei unserem heimlichen Prajudiziensystem nicht oder nur sehr selten, da, selbst wenn die Originalpublikation der Präjudizial-Entscheidung nachgeschlagen wird, der Tatbestand in ihr nur in den für die folgenden Urteilsgründe und den Tenor wesentlichen Punkten zurechtgemacht wiedergegeben ist, oft auch ganz fehlt. Ist also gegenüber dem jetzigen Rechtszustand im deutschen Prozess in diesem Punkt etwas zu ändern, so wäre weniger darauf zu sehen, dass die Einheitlichkeit der Rechtsprechung stärkere Wahrung bekomme, als darauf, dass diese Sicherung aus der Heimlichkeit des Kommentar- und Präjudiziensammlungs-Wesens in eine offene gesetzlich geregelte Form übergeführt und dabei für eine sorgfältige Handhabung des Präjudizes, das nur bei gleichem Tatbestand anwendbar sein dürfte, gesorgt würde.

Mit dem Verlangen nach einheitlicher Rechtsprechung wird oft, besonders für Handelsstreitigkeiten, das Verlangen laut nach möglichst genauer Berechenbarkeit der Entscheidung im voraus. (In gleicher Richtung liegt es auch, wenn unter staatsrechtlicher Betrachtungsweise gelehrt wird, das Urteil entspreche, wenn es gut und richtig sei, den Erwartungen der öffentlichen Meinung.) Dabei ist Richtiges und Falsches vermengt. Richtig ist, dass die lex scripta möglichst klar sein und dadurch dem einzelnen Rechtssubjekt die Richtschnur für sein Handeln und für sein Verhalten zum Handeln anderer abgeben muss ; richtig ist, dass man hier von einer präventiven Aufgabe des Gesetzes sprechen kann, das durch seine klare, genaue, möglichst alle Fälle deckende und Kontroversen vermeidende Fassung die Entstehung von Rechtsstreitigkeiten verhindert, so weit diese nicht aus offenem Rechtsbruch entstehen und deshalb auch einfach und rasch zu erledigen sind; richtig ist schliesslich, dass der Gesetzgeber in seinen Vorschriften überall dem „richtigen Recht“ zum Durchbruch verhelfen soll, und sofern dieses wiederum sich mit dem Willen der Allgemeinheit deckt, eine Wechselwirkung zwischen diesem Willen und dem Gesetz eintritt. Unrichtig ist aber, dass in den Fällen, in denen die präventive Macht der Gesetzes versagt hat, sei es, weil das objektive Recht unklar gefasst, sei es, weil das subjektive nicht besonders eigenartig und kompliziert ist, nun auch vom Richterspruch das Gleiche wie vorher vom Gesetz gesagt werden kann. Die einfachste praktische Probe auf die Doktrin der Berechenbarkeit ergibt, dass sie nicht standhält. Die Parteien, die sie im Mund führen, sind zugleich die, an deren Prozessführung die Justiz immer Schaden leidet. Die Rechtskraft des Urteils verlangt Achtung und schliesst die Behauptung der Unrichtigkeit aus, zu der die Partei, die das Ergebnis des Prozesses vorausberechnet hatte und deren Berechnung es nicht entspricht, gerade geneigt ist. Das Ideal des einfachen Rechts- und Wirtschaftszustandes, in dem jeder Gemeindegenosse die Berechtigung und die Rechtswirksamkeit seiner Handlungen sich ebenso selbst zu bemessen vermag wie ihre sittliche oder religiöse Erlaubtheit, liegt in der Entwicklung weit und unwiderbringlich hinter uns. Dafür kann man weder das Gesetz noch die Justiz verantwortlich machen.

11. In besonderem Sinn ist vom Prozessgesetz Klarheit und Verständlichkeit da zu fordern, wo es sich unmittelbar an die ohne Prozessvertreter handelnden Parteien wendet. Das ist in der Prozessordnung in den allgemeinen Vorschriften wie bei der Regelung des amtsgerichtlichen Verfahrens, des Mahnverfahrens, der einstweiligen Verfügungen und der Zwangsvollstreckung vielfach der Fall, ohne dass überall jene Gebote bei der Fassung des Gesetzes beachtet wären. Dem Prozessgesetz ist ganz allgemein der technische Vorwurf zu machen, dass nur in verschwindend wenigen Fällen ausdrückliche Vorschriften über die Folgen eines Verstosses gegen das Gesetz, über die Möglichkeit der Heilung eines solchen Verstosses oder eines Mangels und überhaupt über die zulässigen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe gegeben sind. Wenn es irgend eine Frage gibt, die in der lex scripta statt im ungeschriebenen Recht entschieden werden sollte, so ist es eben die nach der zwingenden oder dispositiven Natur der Vorschriften, die die lex scripta enthält und besonders der Gebote, die sie den Parteien und sonstigen Prozesspersonen gibt, und im Zusammenhang damit die Frage der Heilbarkeit von Mängeln einer Handlung, die unter solcher Vorschrift vorgenommen ist. Es lässt sich sehr viel dafür sagen, dass man Wissenschaft und Praxis, zusammen mit den wirtschaftlichen Kräften und dem Rechtsempfinden des Volks, materielle Rechtssätze in verhältnismässig freiem Spiel ausarbeiten lässt; aber wenn der Gesetzgeber einmal Gebote in der starren Form des

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/359&oldid=- (Version vom 7.8.2021)