Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/355

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Kulturwelt ergibt, heute der der Grenzen zwischen der Jurisdiktion des untern und obern Gerichts erster Instanz; überall erweitert sich die Zuständigkeit des ersteren auf Kosten des letzteren. Da wo die Teilung der Zuständigkeit nach dem Geldwert der Streitsache erfolgt ist, erklärt man mit der Minderung dieses Wertes im Wirtschaftsverkehr die Notwendigkeit der Hinaufsetzung des für die Zuständigkeit entscheidenden Werts sehr einfach. Indessen zeigt sich die allgemeine Tendenz auch da, wo die Teilung nach sachlichen Kriterien ohne Rücksicht auf den Streitwert erfolgt ist. Man fordert mit Recht, dass diese Art der Teilung, für die der Ausdruck der funktionellen Zuständigkeit in erweitertem Sinn übernommen werden kann, mehr und mehr an die Stelle der mechanischen Wertgrenze trete, und diese Forderung geht Hand in Hand mit dem Verlangen danach, dass auch hier ein Hin- und Hergeben der Streitsachen unter den Gerichten der ersten Instanz, je nach ihrer Eignung zur einzel- oder kollegialrichterlichen Behandlung, ermöglicht werde. Jetzt entscheiden darüber die Parteien und, wo sie nicht anders disponieren, die starre Zuständigkeitsregel des Gesetzes. Je mehr sich aber der Gegensatz zwischen dem amts- und landgerichtlichen Verfahren vertieft und dadurch zwei völlig verschiedene ordentliche Zivilprozesse nebeneinander treten (darüber vgl. unten 13), desto mehr darf man auch fordern, dass den Fällen Rechnung getragen wird, in denen nach der Meinung des vom Kläger angegangenen Gerichts eine Abweichung von der gesetzlichen Regel dem Bedürfnis des Einzelfalls entspräche. Gegen eine Überweisung vom Amts- an das Landgericht spräche freilich das Bedenken, dass den Parteien im höheren Verfahren höhere Kosten erwachsen und der Anwaltszwang auferlegt wird. Gegen die Abgabe eines einfachen und für eine Partei wenigstens besonders dringenden Rechtsstreits vom Landgericht an das Amtsgericht treffen diese Erwägungen, selbst wenn man ihnen Gewicht beilegt, nicht zu.

Schliesslich ist auch darüber fast allgemeine Einigkeit gegeben, dass die Besetzung der Richterbank in unseren höheren Gerichten mit fünf und sieben Richtern zu hoch gegriffen ist. Dass die hohe Zahl keinerlei Gewähr für die Güte der Entscheidungen bietet – vollends nicht für ein Mass der Vortrefflichkeit des Urteils, das die Nachteile der schwerfälligen Verhandlung aufwöge – , haben die Plenarentscheidungen des deutschen Reichsgerichts-Systems gezeigt. Sie haben in der Praxis völlig versagt, und es fehlte nicht viel, so hätte sich an ihnen gezeigt, dass auch heute noch ein Gesetz in desuetudinem kommen kann. In bedeutenden Streitfragen haben die Plenarentscheidungen vielfach sogar eine lähmende Wirkung auf die Rechtsentwicklung geübt und zu Rückbildungen geführt, die unter der gewöhnlichen Rechtsprechung nicht eingetreten wären. Die Gefahr des Kollegialgerichts liegt immer darin, dass nur ein Kollegialmitglied, der Referent, mit dem Einzelfall nach seinem Tatbestand völlig vertraut wird, während die übrigen Mitglieder nur in streitigen Rechtsfragen zur Entscheidung mitwirken. Dieser, der rechten Übung des Richteramts zuwidergehende Zustand tritt um so eher ein, je höher die Zahl der Richter ist, die die Bank bilden. Will man also eine Rechtsprechung, die möglichst dem Einzelfall gerecht wird, gerade auch in den höheren Gerichten, so ist für die Gerichte erster und zweiter Instanz als Höchstzahl eine Bank von drei Richtern, und auch beim Reichsgericht nur für besondere Fälle nach Anordnung des Senatspräsidenten die Mitwirkung von mehr als drei (bis zu fünf) Richtern zu fordern. Das höhere Gewicht gibt dem Gericht höherer Ordnung nicht die Zahl (da doch 3X1=3 mehr bleibt als 7X0=0), sondern die grössere Erfahrung und die bessere Auslese der Richter, die dem höheren Gerichte zugute kommt.

6. Die Einsetzung von Sondergerichten, denen durch technisch geschulte Beisitzer des Richters für gewisse Arten von Rechtsstreitigkeiten eine populärere Rechtsprechung gewährleistet werden sollte, als sie die ordentlichen Gerichte zu bieten vermochten, ist unter den Prozessualisten von vornherein erheblichen Bedenken begegnet. Ein Weitergehen auf diesem Weg ist nicht zu erwarten, da schon bei den Kaufmannsgerichten durchaus nicht jene Beruhigungswirkung in der öffentlichen Kritik der Justiz eingetreten ist, die sie üben sollten und die auch von den Gewerbegerichten vielfach ausgegangen ist. Eine bleibende Bedeutung wird aber diesen Sondergerichtsordnungen in der Geschichte der deutschen Gerichtsordnung deshalb zukommen, weil sie einen starken Druck auf die Reform des ordentlichen Verfahrens ausgeübt haben und noch üben. Der Vergleich des Amtsgerichtsverfahrens mit dem gewerbe- und kaufmannsgerichtlichen schärft das Bedürfnis nach Schleunigkeit und Formlosigkeit des Prozesses; der Versuch des Ausschlusses der Rechtsanwälte beim Sondergericht gibt

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/355&oldid=- (Version vom 7.8.2021)