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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

III. So zeigt unser Rechtszustand ein unklares, zerfahrenes Bild. Wir wollen suchen es zu verstehen. Die auffallende Tatsache, dass die Laien in Zivilsachen nur ausnahmsweise, hingegen in Strafsachen erstinstanzlich – von Strafkammern und Reichsgericht abgesehen – regelmässig mitwirken, kann nur aus der Natur der Sache erklärt werden, während die Verschiedenartigkeit der erstinstanzlichen Strafgerichte damit nichts zu tun hat. Die Strafkammer, das reine Beamtengericht, beschäftigt sich mit durchaus gleichartigen Dingen, wie Schöffen- und Schwurgericht. Nur äusserliche und politische Gründe motivieren die Differenz: Misstrauen gegen den Volksrichter, Unklarheit über den Wert des Schöffen- und Schwurgerichts. Daher als Rückstoss das Misstrauen aller derer gegen die Strafkammer, die in der Laienbeteiligung einen Vorzug des Strafgerichts sehen. Das Volk verwirft das rein bureaukratische Strafgericht; zünftige Juristen reden ihm das Wort: mit Unrecht, wie sogleich zu zeigen sein wird.

Unser Zivilrecht ist ein hochgespanntes Juristenrecht, dessen Beherrschung durch die stets wachsende und nichts weniger als volkstümlich geartete Gesetzgebung immer mehr erschwert wird und nur noch berufsmässigem Studium möglich ist. Der Laie ist ihm gegenüber hilf- und ratlos. Was soll er im Zivilgericht? Ihn etwa für rein wirtschaftliche Fragen, z. B. in Schädensprozessen zu verwenden, ist ein längst aufgegebener, unpraktischer Gedanke. Da tritt der Sachverständige ein. Wenn dennoch in Handelssachen der Laie als Vollrichter eine beliebte, erspriessliche Tätigkeit entwickelt, so ist das auf die Art der Selektion und Aufgabe zurückzuführen.

Die Kammer für Handelssachen ist nicht Standesgericht, nicht nur für Prozesse von Kaufleuten untereinander oder gegen Kaufleute berufen, sondern ein fachmännisches Gericht, Zuständig für Rechtsverhältnisse, wie sie im Handelsverkehr gang und gäbe sind. Der Handelsrichter ist Fachmann, ins Handelsregister eingetragener oder eingetragen gewesener Kaufmann oder Vorstand einer Aktiengesellschaft, Gesellschaft m. b. H, sonstigen juristischen Person, an Seeplätzen wohl auch Schiffahrtskundiger, ernannt von der Landesjustizverwaltung auf gutachtlichen Vorschlag der Handelskammer für drei Jahre mit Möglichkeit der Wiederernennung. Von ihr wird oft Gebrauch gemacht und so haben wir trefflich geschulte Handelsrichter, die lange Zeit hindurch willig das Ehrenamt führen. Der Grundgedanke des Instituts ist also die Nutzbarmachung der eigenartigen fachmännischen Kenntnis für die Rechtsprechung. Daher ist es, nebenbei bemerkt, eine Verirrung, der Kammer für Handelssachen die Prozessbeschwerden und damit spezifisch formal-prozessuale oder Vollstreckungsfragen zuzuweisen.

Anders die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte, die ihrer Organisation wie ihrer Aufgabe nach wesentlich sozial-politisch gedachte Klassengerichte sind. Das tritt scharf hervor in der Wahl der Beisitzer durch die beiden beteiligten Interessentengruppen (Arbeitgeber und Arbeiter; Kaufleute und Handlungsgehilfen) und in der Beschränkung der Kompetenz vorzüglich auf Arbeits-, Dienst- und Lehrverhältnisse. Daher auch die Verwertbarkeit der Gewerbegerichte als Einigungsämter. Der von den widerstreitenden Interessen unabhängige Vorsitzende erscheint als ausgleichender Faktor und der – freilich gegenständlich stark eingeengte – Rechtsmittelzug an die Zivilkammer des Landgerichts als eine Garantie gerechter Rechtsprechung.

So enthalten diese Institutionen der Zivilgerichtsverfassung ein deutliches Bekenntnis, dass in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten der Laie sich zum Richteramt der Regel nach nicht eignet. Daran ist festzuhalten.

IV. Wesentlich anders liegt es in Strafsachen. Ein nicht verbildetes Strafrecht sollte dem entwickelten Laienverstand, der Intelligenz, die man den gesunden Menschenverstand nennt, ohne weiteres zugänglich sein. Die Grundbegriffe des Strafrechts können ihm nur durch eine Scholastik, die das Natürliche und Einfache verkünstelt und verschraubt, unverständlich werden. Das Wesen der strafbaren Handlung, die Begriffe und die Formen der Schuld, der Teilnahme, des Versuchs u. dergl. sind nichts spezifisch Juristisches oder

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/349&oldid=- (Version vom 22.11.2023)