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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

oder republikanisch organisiert ist. Er sucht das Walten der Gerechtigkeit zunächst in der Unabhängigkeit der Rechtspflege. Sie soll in Händen liegen, die unabhängig sind von den Weisungen des Monarchen und seinen Verwaltungsstellen. Daher der Ausschluss der Kabinetsjustiz, der Rechtsprechung durch Verwaltungsorgane, daher strenge Scheidung von Justiz und Verwaltung, Bindung jener lediglich durch das Gesetz und endlich die Garantien richterlicher Unabhängigkeit. Alles das gilt in erster Linie der Rechtspflege durch Beamtenrichter, während dem Ehrenbeamten die Präsumtion der Unabhängigkeit zukommt: freilich dann eine arge Täuschung, wenn der Volksrichter der öffentlichen Meinung, der Parteiung oder Interesseneinwirkung unterliegt. – Solche Einflüsse können in politisch erregten Zeiten, in denen Klassen, Stände um die Herrschaft ringen, wirtschaftliche und soziale Gegensätze das öffentliche Leben bestimmen, das Volksrichtertum verderben und zur politischen Geisel machen. Die Eigenschaft des Richters als Ehrenbeamten gewährleistet die Unabhängigkeit der Rechtsprechung noch nicht, so wenig wie eine staatsrechtliche Organisation der Justiz. Es bedarf hierzu vor allem der geeigneten Personen, solcher, die innerlich unabhängig sind.

Für den Beamtenrichter setzt hier Zucht und Erziehung ein. Der Lebensnerv des Standes muss die innere Freiheit von äusseren Einflüssen und subjektiven Interessen sein. Der deutsche Richterstand darf sich mit Recht solcher Integrität rühmen. Der oft gehörte Vorwurf der Klassenjustiz ist ein unwahres Schlagwort politischer Agitation.

Für den Volksrichter kommt die standesgemässe Selbstzucht nicht in Frage. Hier hilft nur Selektion, wie man die bei der Bildung der Schöffen- und Geschworenengerichte zu üben sucht. Darauf ist später einzugehen.

Die Unabhängigkeit im einzelnen Fall, die Unparteilichkeit und Unbefangenheit sucht man durch gesetzliche Vorschriften über Ausschliessung und Ablehnung des Richters zu wahren. Immerhin: Unabhängigkeit verbirgt noch nicht Gerechtigkeit. Dazu gehört mehr. Sie fordert die Fähigkeit zur Rechtsprechung und das bedeutet Verschiedenes für den naiven einfachen Zustand des Volksrechts und den eines hochentwickelten Juristenrechts. Daher bestreiten heute viele dem Volksrichter in Deutschland den Beruf zum Richten. Erledigt kann diese Frage nur werden von der heutigen Organisation der richterlichen Behörden aus.

II. Man kann den Volksrichter allein oder in Gemeinschaft mit dem Beamtenrichter verwenden und im letzteren Fall die Urteilsfunktion entweder ausschliesslich dem Volksrichter oder beiden zu gesamter Hand geben oder sie zwischen ihnen teilen. Sieht man von historischen und ausserdeutschen Bildungen ab, so bieten sich folgende Typen. Die Zivilgerichtsverfassung, soweit sie gemäss den Reichsjustizgesetzen als „ordentliche“ zu bezeichnen ist, hat Laienrichter lediglich in den nur fakultativen Kammern für Handelssachen als die beiden Beisitzer des Beamtenrichters mit ungeteilter Urteilsfunktion (GVG. §§ 100 f. 116). Dem sind durch Sondergesetze die nach gleichem Typus verfassten Gewerbegerichte (R.Ges. V. 29. Juli 1890, 1. Februar 1902) und Kaufmannsgerichte (R.Ges. v. 6. Juli 1904) hinzugetreten. Die vom Reichsgesetz zugelassene landesgesetzliche Eigenbildung der Gemeindegerichte bleibt hier beiseite. In der Strafgerichtsverfassung erscheint der Volksrichter als Schöffe und als Geschworener; im Schöffengericht in gleicher Urteilsaufgabe mit dem Richter, im Geschworenengericht mit geteilter Urteilsfunktion. Hier beantwortet nach französisch-deutschem System die Jury die Schuldfrage gemäss der Fragestellung des Richters, während diesem die Straffrage verbleibt. In höherer Instanz hatten bis vor kurzem Volksrichter keinen Platz; der ist zuerst den Handelsrichtern zuteil geworden durch die Novelle z. ZPO. und GVG. vom 1. Juni 1909, welche die Kammern für Handelssachen zu Berufungs- und Beschwerdegerichten in amtsgerichtlichen Handelssachen gemacht hat. Für Schöffengerichte wird gleiches erstrebt durch Uebertragung der Berufung an sie. Eine eigentümliche Stellung nehmen die Militärstrafgerichte ein. Sie lassen sich in den hier erörterten Gegensatz nicht eingliedern.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/348&oldid=- (Version vom 22.11.2023)