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sondern innerhalb des Verwaltungsorganismus angebracht sind. Die VG bedeutet Kontrolle der Verwaltung, aber durch eine ihr nicht fremde, sondern immanente Macht, durch besondere, justizförmig gestaltete Verwaltungsbehörden.

Man hätte sich für das Ganze auf das Vorbild Frankreichs berufen können. Denn die Gedanken, welche unserer VG ihr Gepräge geben, liegen doch, wenn man den Blick auf das wirklich Wesentliche richtet, auch der um mehr als sieben Jahrzehnte älteren, durch das grosse napoleonische Organisationsgesetz von 1801 („Pluviôsegesetz“) geschaffenen französischen VG (contentieux administratif, justice administrative) zugrunde (vgl. unten S. 317). Doch ist das Bewusstsein einer Anlehnung an die französischen Einrichtungen (abgesehen natürlich von Elsass-Lothringen, wo dieselben einfach übernommen und in der Folge nur wenig umgebildet wurden) nirgends nachweisbar, und auch objektiv kann von einer solchen Anlehnung nicht die Rede sein. Es liegt ein Parallelismus der Entwicklung, nicht eine Rezeption französischen Rechtes vor. Die deutsche VG ist Eigengewächs, sie gehört nicht zu den Institutionen, welche aus Frankreich importiert oder unter französischem Einfluss ausgestaltet worden sind.

III. Organisation, Verfahren und Zuständigkeit der deutschen Verwaltungsgerichte. – VG besteht gegenwärtig im grössten Teile des Deutschen Reichs, nämlich in den Staaten Preussen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Oldenburg, Braunschweig, Anhalt, sämtlichen thüringischen Staaten und Lippe (also in 18 deutschen Einzelstaaten von 25) ferner im Reichslande Elsass-Lothringen. Auch das Reich hat sich eine eigene und unmittelbare VG geschaffen, diese besteht aber nicht in einem zentralen Gerichtshof mit allgemeiner Zuständigkeit, sondern in einer Mehrheit von Spezialbehörden (Reichsversicherungsamt, Bundesamt für das Heimatswesen, Aufsichtsamt für Privatversicherung, Oberseeamt, Reichspatentamt und einige andere Stellen, z. B. Aufsichtsamt für Privatversicherung, Oberschiedsgericht in Sachen der Angestelltenversicherung, Reichseisenbahnamt). Die von mehreren Seiten empfohlene (vgl. Verhandlungen des 30. deutschen Juristentages [1910] Bd. 1 S. 51 ff., 489 ff.) Vereinigung dieser Sondergerichte zu einem einheitlichen Reichs-Verwaltungsgericht, dem dann auch noch andere Zuständigkeiten, eventuell die Rechtskontrolle über den gesamten Vollzug der Reichgesetze durch die Behörden der Einzelstaaten zu übertragen wären, ist wohl nur eine Frage der Zeit.

Einstweilen aber liegt diese, wie jede andere Rechtskontrolle der Verwaltung noch in der Hand der Einzelstaaten; die deutsche VG ist, von jenen Reichs-Sondergerichten abgesehen, Landesgerichtsbarkeit.

1. Organisation. – Die Verwaltungsgerichte sind, dem Begriff der VG entsprechend, nicht in den Rahmen der Gerichtsverfassung sondern in den der Verwaltungsorganisation der einzelnen Länder eingefügt, also nicht Justiz-, sondern Verwaltungsorgane. Die unteren Instanzen des Systems, die Verwaltungsgerichte erster und, beim Vorhandensein dreier Instanzen, der Mittelinstanz sind überall zugleich Verwaltungsbehörden im engeren und eigentlichen Sinne, beauftragt mit der laufenden, tätigen Geschäftsführung auf dem Gebiete der inneren Verwaltung (nach dem preussischen Ausdruck: der „allgemeinen Landesverwaltung“), sodass hier die Trennung zwischen tätiger und streitentscheidender Verwaltung eine nur prozessuale ist, indem die Behörden dann, wenn sie als Verwaltungsgerichte fungieren, nicht das gewöhnliche formlose Verwaltungsverfahren, sondern eine besondere Prozedur, das Verwaltungsstreitverfahren (s. u. 2) zu beobachten haben. Dagegen ist in der obersten Instanz die VG durchweg auch organisatorisch von dem laufenden Vollzug der Verwaltungsgeschäfte getrennt: die diese Instanz verkörpernden Oberverwaltungsgerichte oder Verwaltungsgerichtshöfe sind nur Verwaltungsgerichte und haben mit der oberen Leitung der tätigen Verwaltung, welche den administrativen Zentralbehörden, d. h. den Ministerien, ungeschmälert verblieben ist, nichts zu tun.

Die Verwaltungsgerichte sind also Verwaltungsorgane. Sie sind aber, ihrem besonderen Zweck, der gesetzmässigen, unabhängigen und unparteiischen Streitentscheidung entsprechend, gerichtsähnlich gestaltet. Sie sind, im Gegensatz zu dem in der Verwaltung sonst vorherrschenden monokratischen Organisationstypus, kollegialisch eingerichtet. Ihr Instanzenzug ist nach dem Vorbild des gerichtlichen geregelt (3 Instanzen in Preussen und Bayern, in den anderen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/343&oldid=- (Version vom 6.8.2021)