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theoretischer Vertreter. Indessen hatte er damals den Höhepunkt seiner werbenden Kraft doch schon überschritten. Es war ihm inzwischen, namentlich durch die bahnbrechenden Arbeiten Gneists über englisches und deutsches Verwaltungsrecht eine Gegnerschaft erwachsen, welche das Problem des Rechtsschutzes auf dem Gebiete der Verwaltung auf einem anderen Wege lösen wollte. Schon 1860 hatte Gneist (Engl. Verf.- u. Verwaltungsr. Bd. 2, 1. Aufl., S. 887 ff.) den Gedanken der Rechtskontrolle der Verwaltung durch die ordentlichen Gerichte verworfen: die Garantie gesetzmässiger Verwaltung dürfe nicht in der Unterordnung der Verwaltung unter die Justiz gesucht, sondern müsse gefunden werden in einer dem Zwecke des Rechtsschutzes entsprechenden Neugestaltung der Verwaltung selbst: eine gewisse Justizähnlichkeit der Verwaltung in Organisation und Verfahren sei anzustreben. Das Wesentliche sei „die Trennung der höchsten Beschwerdeinstanz von der laufenden Ministerverwaltung“. Damit war die Forderung besonderer Verwaltungsgerichte – justizförmiger Einrichtungen mit prozessähnlichem Verfahren innerhalb, nicht ausserhalb des administrativen Organismus – im Kerne bereits erhoben. Dieser Forderung sollte die Zukunft gehören. Eine erste Verwirklichung fand sie im Grossherzogtum Baden: G. über die Organisation der inneren Verwaltung vom 5. Oktober 1863. Ihren Sieg in Deutschland entschied die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preussen durch die Verwaltungsreform der Jahre 1872–1883.

Die Gründe, welche diesen Sieg und damit die Ablehnung der Übertragung der Rechtskontrolle der Verwaltung auf die ordentlichen Gerichte herbeigeführt haben, sind im wesentlichen folgende. Einmal musste damit gerechnet werden, dass der deutsche Richterstand in seiner vorwiegend privat- und strafrechtlichen Schulung und Berufserfahrung den Aufgaben, vor welche ihn jene Übertragung stellen würde, nicht gewachsen sein möchte. Dieser Besorgnis unzureichender Rechtskenntnis trat die andere hinzu, dass es auch an der nötigen Sachkenntnis fehlen werde. Ist doch in ausserordentlich vielen Konfliktsfällen zwischen Verwaltung und Individuum weniger die Rechtsfrage als die Tatfrage streitig. Man denke an die Bedürfnisfrage bei Wirtschaftskonzessionen, an Meinungsverschiedenheiten über Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit eines Gewerbetreibenden (vgl. Gewerbeordnung § 32), über die Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit öffentlicher Arbeiten. (Anlegung eines Weges, Bau eines Schulhauses), über das Vorliegen der „tatsächlichen Voraussetzungen“ (preuss. Landesverwaltungsgesetz v. 30. Juli 1883, § 127), welche die Polizei zum Erlass einer Verfügung berechtigen. Diese und viele andere in der Praxis der heutigen Verwaltungsgerichte tagtäglich vorkommenden Fragen sind nicht Rechtsfragen, welche allein der im Richteramt geschulte Jurist beantworten kann. Es kommt hier weit weniger auf Rechts- als auf Sachkenntnis, und auf praktische administrative Erfahrung an. Und schliesslich noch eine gegen die Übertragung der Verwaltungsrechtspflege an die Justiz sprechende Erwägung; es ist die entscheidende: diese Übertragung würde die Verwaltung nicht sowohl dem Recht als der Justiz unterordnen, damit aber letzten Endes die Verantwortlichkeit in den Verwaltungssachen auf die Justiz überwälzen und die Verwaltung der Selbständigkeit berauben, deren sie durchaus bedarf, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Die staatliche Verwaltungshoheit würde in Wahrheit auf die Gerichte übergehen. Das, worauf es im Rechtsstaate immer wieder ankommt, die Durchführung der Gewaltenteilung, wäre nicht nur nicht erreicht, sondern in einem entscheidenden Punkte geradezu negiert: die Verwaltung wäre mit der Justiz gleichsam wieder zusammengelegt und damit eine Entwicklung, die man bisher allgemein für einen der grössten Fortschritte hielt, auf ihren status quo ante zurückgeführt.

Das natürliche Schwergewicht dieser Erwägungen hat sich überall geltend gemacht. Wo immer in Deutschland seit den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts das Problem der VG in Angriff genommen wurde (s. u. III), nirgends hat man der anfänglich hier und da wohl vorhandenen Neigung, den Rechtsschutz in Verwaltungssachen den ordentlichen Gerichten zu übertragen, Folge gegeben (woran man übrigens, was die Landesgesetzgebung betrifft, von Reichs wegen nicht gehindert gewesen wäre, vgl. Einf. Ges. zum Reichs-Gerichtsverfass.-Ges. § 4). Vielmehr ist das, was Gneist als das „Wesentliche“ bezeichnet hatte, die Trennung von tätiger und streitentscheidender Verwaltung, gesucht und gefunden worden in der Schaffung von Verwaltungsgerichten, welche, obwohl den Gerichten ähnlich gestaltet, doch Verwaltungsorgane geblieben, nicht ausserhalb

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/342&oldid=- (Version vom 5.8.2021)