Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/341

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

der Verwaltung in der konstitutionellen Verantwortlichkeit der Minister zu besitzen glaubte, wobei nicht bedacht wurde, dass die Ministerverantwortlichkeit nur dann wirklich korrektive Bedeutung hat, wenn, was z. B. in Preussen nicht der Fall ist, die Volksvertretung das Recht und die Macht hat, den Rücktritt der Minister gegen den Willen der Krone zu erzwingen, und dass, abgesehen hiervon, jene Verantwortlichkeit in einem sehr wesentlichen Falle keine Garantie gegen Willkürlichkeiten bietet: dann nämlich, wenn die Parlamentsmehrheit dem Minister ergeben ist, in ihm den Mann ihrer Partei, ihres Vertrauens erblickt und ihn deshalb nicht zur Verantwortung zieht.

Es blieb also auch unter dem Konstitutionalismus vorerst dabei, dass, wer anstatt mit dem Nachbar, mit den Organen der öffentlichen Gewalt, namentlich mit der Polizei streiten wollte, sich unter Ausschluss des Rechtsweges auf den Weg der Verwaltungsbeschwerde an die höhere Instanz, zuletzt an den Ressortminister, angewiesen sah. Das hiess: der Minister entscheidet an oberster Stelle auch dann, wenn den ihm nachgeordneten Stellen das Recht auf Eingriff und Zwang von der betroffenen Partei streitig gemacht wurde. Das Verwaltungsrecht seines Ressorts steht ihm einfach zur Verfügung. Er entscheidet über die an ihn gelangenden Beschwerden durch Reskript, per decretum simplex, in einem formlosen schriftlichen Verfahren, nach Akten, auf deren Inhalt der Beschwerdeführer keinen Einfluss und auf deren Kenntnis er keinen Anspruch hat; er entscheidet auf den Bericht der Behörde, gegen deren Verfügung die Beschwerde sich richtet, er entscheidet nur allzuhäufig nach dem Prinzip, dass im Interesse der „Staatsautorität“ (und der massgebenden politischen Richtung) die angegriffene Behörde wenn irgend möglich nicht ins Unrecht gesetzt werden darf. So blieb die Verwaltung, wenn sie auch nicht mehr, wie ehedem, ihr eigener Gesetzgeber sein durfte, doch auch nach der Verfassung noch ihr eigener Richter. Im praktischen Effekt bedeutete das, dass sie jedes ihr erwünschte Recht sich auch dann zusprechen konnte, wenn es ihr bestritten wurde. Massgebend für ihr Tun und Lassen war schliesslich doch nicht das Gesetz, sondern ihr eigener Wille. Den hierin liegenden Widerspruch mit der Verfassung liess in Preussen die dem Eintritt des konstitutionellen Regimes auf dem Fusse folgende „Reaktionszeit“ (1850–1858) grell hervortreten. Hier wurde das Unzulängliche, welches darin liegt, dass das rechtsstaatliche Prinzip der gesetzmässigen Verwaltung zwar „gilt“, aber jeder Schutzgarantie entbehrt, Ereignis. Der de jure abgeschaffte Polizeistaat lebte de facto fort; niemals hat die preussische Verwaltung so ungescheut wie damals nach dem Grundsatz handeln dürfen: erlaubt ist, was mir gefällt.

Der diesen Missständen zugrundeliegende Fehler lag in der Konstruktion des Rechtsstaatsgebäudes. Man hatte, dem Prinzip der Gewaltenteilung zuwider, zuviel Gewalt in einer Hand vereinigt gelassen. Man hatte in die Hand jedes Ressortministers zwei Funktionen gelegt, welche in jedem Staate, der nicht nur dem Namen nach ein Rechtsstaat sem will, getrennt sein müssen: die reine oder tätige (laufende) und die streitentscheidende Verwaltung. Man hatte dem Minister nicht nur, wie recht und richtig, die verantwortliche Leitung der Verwaltungstätigkeit eines Ressorts, sondern auch noch das Recht überlassen, alle Streitigkeiten zu entscheiden, welche sich aus Anlass dieser Tätigkeit ergaben. Die ordentlichen Gerichte waren zur Entscheidung solcher Streitigkeiten unzuständig, eine andere, hierfür zuständige, gleich den Gerichten von der laufenden Verwaltung unabhängige Instanz fehlte.

Dass dies ein unhaltbarer, durchaus reformbedürftiger Zustand war, wurde innerhalb und ausserhalb Preussens bald eingesehen. Aber über das Wie und Wohin des zur Besserung einzuschlagenden Weges gingen die Meinungen weit auseinander.

Als das Nächstliegende erschien die Übertragung der streitentscheidenden Pflege des Verwaltungsrechts an die ordentlichen Gerichte. Und in der Tat ist dieser Gedanke oft genug geäussert und vertreten worden. Schon die Frankfurter Grundrechte des Deutschen Volkes von 1848 wollten ihn zum Gesetz erheben: „Die Verwaltungsrechtspflege (d. h. alle den Verwaltungsbehörden zustehende Gerichtsbarkeit) hört auf, über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte“ (Reichsverfassung v. 1849, § 182). Aus der Bewegung des Jahres 1848 übernahm ihn der Liberalismus der 60er Jahre, insbesondere in Preussen, und verhalf ihm dort zu einem, freilich nicht sehr bedeutsamem Teilerfolge: preuss. Gesetz betr. die Erweiterung des Rechtswegs vom 24. Mai 1861. Bald darauf erstand ihm in Otto Bähr („Der Rechtsstaat“, 1864) sein hervorragendster

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/341&oldid=- (Version vom 5.8.2021)