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ordentlichen Richter). Und im 18. Jahrhundert wurde dieser Grundsatz nur noch schärfer und folgerichtiger ausgeprägt. Besonders in Preussen, wo nicht nur bei Konflikten der Einzelnen mit den Organen der öffentlichen Verwaltung, sondern überhaupt in allen Streitsachen, „welche den statum oeconomicum et politicum angehen oder überhaupt in das interesse publicum einschlagen“ (Ressort-Reglement Friedrichs II. v. 19. Juni 1749), also bei jedem Zusammenstoss von öffentlichem und Privatinteresse der ordentliche Rechtsweg ausgeschlossen war. Nur, wer sich mit Privatpersonen über Privatrechte streiten wollte, konnte die Justiz anrufen; wer sich durch die Tätigkeit der landesherrlichen Verwaltungsbehörden verletzt fühlte, konnte es nicht. Er konnte lediglich Beschwerde einlegen. Dieser Beschwerdeweg war gewiss, vom Standpunkte des sein Interesse verfolgenden Beschwerdeführers (Rechte hatte er ja, bei dem allgemeinen Mangel gesetzlicher Bindung der Verwaltungsorgane, der Verwaltung gegenüber niemals) aus gesehen, mangelhaft. Über die Beschwerde wird im schriftlichen und geheimen Verfahren auf Grund der Akten entschieden durch eine höhere Behörde, welche der Unabhängigkeit entbehrte. Aber die gleichen oder doch ähnliche Mängel hafteten auch der damaligen Verfassung und dem Verfahren der ordentlichen Gerichte, dem dem Beschwerdeführer verschlossenen Rechtsweg an. Auch hier gab es nur ein geheimes, schriftliches Aktenverfahren. In den kleineren deutschen Ländern war es meist eine und dieselbe Behörde, welche die Funktionen eines obersten Gerichts und eines obersten Verwaltungsorgans wahrnahm; und wo, wie in Preussen, die oberste Verwaltungsbehörde (z. B. das Generaldirektorium) schon im 18. Jahrhundert von dem obersten Gerichtshof getrennt gewesen ist, war sie ebenso wie ein solcher Gerichtshof, nämlich kollegialisch, organisiert und der oberste Gerichtshof war ebensowenig unabhängig wie die oberste Verwaltungsbehörde. So fehlte es an den Voraussetzungen, um den Ausschluss des Rechtswegs in Verwaltungsstreitsachen als besonderen Nachteil empfinden zu lassen.

Im 19. Jahrhundert haben sich diese Verhältnisse völlig geändert. Die jetzt einsetzende Modernisierung der Justiz-, wie der Verwaltungseinrichtungen schafft Verschiedenheiten zwischen Rechts- und Verwaltungsbeschwerdeweg, welche den ersteren in den Augen des Rechtsuchenden als das Bessere, den anderen als das sehr viel Schlechtere erscheinen liessen. Justiz und Verwaltung, nun erst scharf von einander getrennt, entwickeln sich selbständig, sozusagen nach entgegengesetzten Richtungen. Die Justiz schlägt eine ausgeprägt individualistische, auf möglichst vollkommenen Schutz von Einzelrecht und Einzelinteresse bedachte Richtung ein. Die Gerichte werden unabhängig von jedem Regierungs- und Verwaltungseinfluss, ihre Organisation wird stetig verbessert, ebenso ihr Verfahren: Regelung des Instanzenzugs und der Rechtsmittel, Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlung, Anklageprozess, Schwurgerichte. Alle diese und andere Garantien der Gesetzmässigkeit und Sachlichkeit der Streitentscheidung fehlten dem Verwaltungsbeschwerdewege, welcher unter diesem Gesichtspunkte nicht sowohl schlechter war wie der moderne Rechtsweg, als auch schlechter wie der Verwaltungsweg in älteren Zeiten. Eine Verschlechterung im letzteren Sinn war vor allem dadurch eingetreten, dass zu Anfang des 19. Jahrh. die kollegiale Einrichtung der obersten Verwaltungsinstanzen durch die büromässige, m.a.W. durch das System der Ministerien ersetzt wurde, womit eine sehr wesentliche Garantie unparteiischer und gerechter Verwaltungsentscheidungen verschwand, während andererseits die Abhängigkeit der unteren Verwaltungsorgane von den Ministern stetig verschärft, die Energie und Intensität der gesamten Verwaltungstätigkeit, ohne sonderliche Rücksichtnahme auf die Interessen der Einzelnen, gesteigert wurde.

Auch durch den Übergang der deutschen Staaten (Bayern, Baden, Württemberg, Hessen 1818–1820, Sachsen 1831, Preussen 1848) zur konstitutionellen Verfassungsform ist eine Besserung des Verhältnisses zwischen Verwaltung und Individuum zunächst tatsächlich nicht bewirkt worden. Wohl bringen die konstitutionellen Verfassungen dieses Verhältnis in eine rechtliche Ordnung, sie setzen an Stelle des „Polizeistaats“, der Verwaltung nur nach Zweckmässigkeitsrücksichten, den „Rechtsstaat“: die Verwaltung auf Grund und innerhalb der Schranken der Gesetze. Doch hatte das zunächst mehr theoretische als praktische Bedeutung. Der Rechtsstaat war proklamiert, aber der Polizeistaat dauerte fort. Er dauerte fort, weil man es versäumt hatte, wirksame Schutzeinrichtungen zu treffen, welche dem Prinzip der gesetzmässigen Verwaltung im Streitfalle Achtung verschafften. Diese Unterlassung erklärt sich daraus, dass man eine ausreichende Bürgschaft für die Gesetzmässigkeit

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/340&oldid=- (Version vom 5.8.2021)