Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/320

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

und zu publizieren und kann nie aus politischen Gründen einem Gesetze die Ausfertigung verweigern. Allein er hat doch nicht kritiklos alles auszufertigen und zu verkündigen, was ihm vom Bundesrate als Gesetz übermittelt ist,[1] sondern nur was wirklich ein Gesetz ist. Daher hat er, unbeschadet des Umstandes, dass der Bundesrat das verfassungsmässige Zustandekommen des Gesetzes vor Erteilung der Sanktion bereits geprüft und bejaht hat, zu untersuchen, ob das Gesetz formell den Verfassungsvorschriften entsprechend entstanden ist, und er muss dem Gesetze die Ausfertigung verweigern, wenn er, abweichend vom Bundesrate, zu einer Verneinung dieser Frage gelangt. Da nun aber in solchem Falle die zwischen dem Bundesrate und dem Kaiser vorliegende Meinungsverschiedenheit nicht durch Entscheidung einer höheren Instanz beseitigt werden kann, so bleibt das sanktionierte Gesetz unausgefertigt und kann demzufolge auch nicht verkündigt werden, solange nicht die nach Ansicht des Kaisers bestehenden formellen Mängel gehoben sind. Und so ist tatsächlich die Möglichkeit gegeben, dass der Kaiser, indem er einem Gesetze aus formellen Gründen die Ausfertigung versagt, ein Veto ausübt. – Die herkömmliche Eingangsformel der Reichsgesetze: „Wir Wilhelm . . . . verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags, was folgt“ bringt weder die Kompetenz, die der Kaiser, noch die, die der Bundesrat bei der Gesetzgebung hat, zum richtigen Ausdrucke, indem es nach ihr scheint, als ob der Kaiser die Sanktion erteilt, der Bundesrat dagegen nur wie eine neben dem Reichstage stehende zweite Kammer an der Feststellung des Gesetzesinhaltes beteiligt ist. Sie erklärt sich daraus, dass die Praxis sich einfach an die preussische Formel angelehnt hat.

e) Die Verkündigung der Reichsgesetze erfolgt auf Befehl des Kaisers in einem Reichsgesetzblatte, das unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers erscheint. Das so verkündete Reichsgesetz tritt in Kraft, sofern es nicht selbst einen anderen Anfangstermin seiner Verbindlichkeit bestimmt, mit dem vierzehnten Tage nach Ablauf desjenigen Tages, an dem das betreffende Stück des Reichsgesetzblattes in Berlin ausgegeben worden ist (R. Verf. Art. 2).

Die lediglich eine besondere Kategorie der formellen Reichsgesetze bildenden Landesgesetze für Elsass-Lothringen kommen nach dem Verf. Ges. vom 31. Mai 1911 Art. II §§ 5, 16 genau in derselben Weise zustande wie die Landesgesetze der deutschen Einzelstaaten, in denen das Zweikammersystem besteht. An die Stelle des Landesherrn tritt der Kaiser. Die Verkündigung dieser Gesetze hat in einem besonderen Gesetzblatte für Elsass-Lothringen zu erfolgen.

3. In den freien Städten hat sowohl der Senat wie die Bürgerschaft das Recht der Initiative. Zum Zustandekommen eines Gesetzes ist ein übereinstimmender Beschluss beider Körperschaften erforderlich. Die Ausfertigung und Verkündigung des Gesetzes steht dem Senate zu. Die Sanktion als ein besonderer Akt fehlt. Und dieses hängt damit zusammen, dass hier keiner der beiden an der Gesetzgebung beteiligten Faktoren dem anderen gegenüber die überragende Stellung des alleinigen Trägers der Staatsgewalt hat. Die Staatsgewalt steht gemeinschaftlich dem Senate und der Bürgerschaft zu. Beide zusammen geben die Gesetze und erteilen den Gesetzesbefehl. Die Erklärung dieses aber braucht nicht besonders zu erfolgen, sie liegt in der beiderseitigen Zustimmung zu dem Gesetzentwurfe.

V. Die formellen Gesetze unterliegen wie alles Recht einer richterlichen Kontrolle, die ausgeübt wird gelegentlich ihrer Anwendung im einzelnen Falle. Zweifellos hat der Richter jedes Gesetz anzuwenden, aber doch nur das wahre Gesetz, nicht auch das Scheingesetz; diesem hat er vielmehr die Anwendung zu versagen. Daraus folgt jedoch, dass der nur dem Gesetze unterstellte Richter, den niemand wie nur wieder das Gesetz anweisen kann, eine Norm als Gesetz anzusehen, die Befugnis haben muss zu prüfen, ob eine Norm, die sich als Gesetz ausgibt, auch wirklich ein Gesetz ist, d. h. unter Beteiligung der verfassungsmässig erforderlichen Organe und in den verfassungsmässig


  1. So die herrschende Ansicht, vertreten vornehmlich durch Laband a. a. O. S. 38, Haenel a. a. O. S. 50 f., Zorn a. a. O. S. 410 f.; Anschütz a. a. O. S. 158. Anders besonders v. Seydel Komm. S. 173 f., Bayer. St. R. II S. 344.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/320&oldid=- (Version vom 1.8.2018)