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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Alle diese Veranstaltungen beherrscht der Grundsatz der Aktualität. Jede Zeitung sucht es in der Raschheit der Berichterstattung den andern zuvorzutun. Zwar hat das zwei- bis dreimalige tägliche Erscheinen, das im Deutschen Reiche und in Österreich für die grösseren Blätter fast zur Regel geworden ist, in andern Ländern kaum Nachahmung gefunden; aber auch in diesen findet die Forderung grösster Schnelligkeit der Herstellung in der Entstehung besonderer Morgen- und Abendblätter, in der Verbreitung der Setzmaschine und der Rotationsmaschine für den Druck ihren Ausdruck, vor allem aber in der Organisation der Stoffgewinnung.

Diese letztere hat schon früh damit begonnen, das Gesetz der Massenproduktion auf die Nachrichten-Sammlung und -Verarbeitung anzuwenden. Es entstanden Korrespondenz-Bureaux, die meist von den Landeshauptstädten aus es übernahmen, die Zeitungen mit Artikeln zu versorgen, die sie ihnen auf einseitig bedruckten oder autographierten Blättern zu beliebiger Benutzung regelmässig lieferten. Diese Korrespondenzen haben sich im Laufe der Zeit ausserordentlich vermehrt; sie haben sich nach Parteirichtungen oder Stoffgebieten spezialisiert, und da sie ohne Quellenangabe von den Redaktionen benutzt werden können, so ist für letztere die eigene geistige Tätigkeit auf ein Mindestmass herabgesetzt. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bilden die „kopflosen Zeitungen“, welche von der Hauptstadt aus den ganzen für ein kleines Blatt notwendigen Stoff in Klischees regelmässig druckfertig versenden, so dass die Herausgeber in der Provinz nur noch die Lokalnachrichten und den Annoncenteil hinzuzufügen haben.

Aus den Korrespondenz-Bureaux sind die Depeschen-Agenturen hervorgewachsen, Anstalten, welche zur Nachrichten-Sammlung und -Übermittlung sich des Telegraphen und des Telephons bedienen und dafür ein weitgreifendes Netz von Korrespondenten und Filialbureaux über die Länder ausgespannt haben. Fast jedes grössere Staatswesen besitzt mindestens eine dieser Agenturen: England das Reutersche Bureau, Frankreich die Agence Havas, das Deutsche Reich das Wolff’sche Bureau, Österreich das offizielle k. k. Telegraphen-Korrespondenzbureau usw. In der Regel sind diese Anstalten Aktiengesellschaften, unterliegen also den Erwerbsinteressen ihrer Eigentümer. Auf der anderen Seite sind sie von den Regierungen der betreffenden Staaten abhängig, unterliegen also in Ausmass und Zuschnitt der Nachrichten, welche sie verbreiten, der offiziösen Zensur. Nur die nordamerikanische Zeitungspresse hat sich von dieser Beeinflussung unabhängig zu erhalten vermocht, indem sie für ihre telegraphische Nachrichtenversorgung ein auf genossenschaftlicher Grundlage ruhendes Institut, die Associated Press begründete. Eine ähnliche Einrichtung ist die schweizerische Depeschenagentur; aber sie ist von den Agenturen der Nachbarstaaten, namentlich der Agence Havas abhängig. Neben den allgemeinen Telegraphen-Agenturen gibt es in verschiedenen Staaten noch Spezialagenturen für besondere Arten von Nachrichten.

Fast alle diese Agenturen stehen mit einander im gegenseitigen Nachrichten-Austausche, und es wird dadurch den Zeitungen möglich, von jeder derselben die neuesten Nachrichten aus der ganzen Welt zu beziehen. Der Stoff, den sie liefern, ist ein unendlich reicher; aber er ist je nach der Quelle verschieden präpariert und bedürfte eigentlich, bevor er dem Publikum vorgesetzt wird, einer sorgfältigen Quellenkritik. Nicht jede Redaktion ist dazu imstande, und so kommt es, dass gerade die einflussreichsten dieser Anstalten in weiten Ländergebieten oft das öffentliche Urteil über Zeitereignisse in einer dem Völkerfrieden abträglichen Weise bestimmen. Sie fördern in der Politik die Interessen der Staaten, welche sie kontrollieren und deren Auffassungen sie – nicht selten zum Schaden anderer Staaten – verbreiten. Nur auf dem Gebiete der Handelsnachrichten pflegen sie einwandfrei zu arbeiten und der Geschäftswelt unschätzbare Dienste zu leisten, die ihnen meistens dadurch vergolten werden, dass neben den Zeitungen auch grosse Privatinteressenten auf ihre Nachrichten abonniert sind.

Allem Anscheine nach ist der Einfluss der Depeschen-Agenturen auf das Zeitungswesen noch immer im Wachsen begriffen, während die Korrespondenzen sich eher im Rückgang befinden. Ja man kann vielleicht sagen, dass die Agenturen seit der Einschaltung des Telephons in ihren Dienst und der Verbilligung des Telegramms durch gemietete Drähte bewusst darauf ausgehen, die lithographierten Korrespondenzen zu ersetzen. Immer grösser wird die Masse des Unwichtigen, das sie bringen. Das Publikum lässt sich geduldig diesen Mischmasch von wichtigen und unwichtigen Nachrichten gefallen, welche die Presse in der grob tatsächlichen Form weitergibt, in der sie eingelaufen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/287&oldid=- (Version vom 3.8.2021)