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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

würde die Wissenschaft herabgewürdigt und „politische Kinderlehre“ gehöre nicht in die Schule. Doch die Erziehung zu staatsbürgerlicher Bildung ward in den letzten Jahrzehnten immer nachdrücklicher in den verschiedensten Volkskreisen gefordert, und zwar besonders aus zwei Gründen, einem äusseren und einem inneren. Die Stellung Deutschlands nach aussen ist an und für sich schon infolge seiner geographischen Lage schwieriger zu behaupten als die anderer Weltmächte, hat sich jedoch in der letzten Zeit so gestaltet, dass wir im Wettbewerb dieser Mächte ohne Betätigung staatsbürgerlicher Gesinnung nicht bestehen können. Nun gewinnt aber diejenige Partei immer mehr Einfluss, die sich gegen die bestehende Staatsordnung erklärt und in trefflicher Organisation mit ebensogrosser Rührigkeit wie Umsicht Anhänger wirbt. Das sozialdemokratische Unkraut droht den staatserhaltenden Weizen zu überwuchern.

Wegen dieser inneren und äusseren Verhältnisse ertönt jetzt laut und allgemein der Ruf nach besserer staatsbürgerlicher Erziehung, und 1909 ist eine eigene Vereinigung dafür gegründet worden. Wer die Jugend hat, hat die Zukunft – diese auch von den Sozialdemokraten erkannte Binsenwahrheit lässt die staatserhaltenden Kreise sehr viel von der Wirksamkeit der Schule erhoffen, die schon der Begründer der neueren Pädagogik, Comenius († 1670), für staatsbürgerliche Erziehung in Anspruch genommen und verantwortlich gemacht hat; im 18. Jahrhundert ist seine Forderung von verschiedenen Seiten und sehr nachdrücklich wiederholt worden.

Jeder Schule stehen drei Wege der Einwirkung auf ihre Zöglinge zu Gebote. Der erste wendet sich an den Verstand: Durch Belehrung sucht die Schule eine Kenntnis der staatlichen Einrichtungen zu übermitteln, und diese Belehrung ist als Grundlage der staatsbürgerlichen Erziehung anzusehen, weil ohne Kenntnis kein Verständnis, ohne solches aber keine wahre Anhänglichkeit an den Staat möglich ist. Ein besonderes Lehrfach aber einzuführen, ist nicht angängig (abgesehen von Fach- und Fortbildungsschulen), schon aus Mangel an Zeit; vielmehr sind die bestehenden Unterrichtsfächer zu benutzen, um die Jugend in Staatskunde[1] zu belehren. In erster Linie kommt naturgemäss der Geschichtsunterricht in Betracht, der sich bisher schon zum Ziele setzte, eine Kenntnis auch der staatlichen Einrichtungen zu übermitteln, dieses Ziel allerdings aus verschiedenen Gründen nicht immer in der wünschenswerten Weise erreichte (in falscher Verallgemeinerung wird deshalb von manchen „der“ Schule vorgeworfen, sie hätte in staatsbürgerlicher Erziehung „überhaupt“ versagt). Er muss so getrieben werden, dass er Staatsbürgerkunde bietet, und diese muss so behandelt werden, dass sie Geschichtsunterricht bleibt. Unter allen Umständen ist in jeder Schule die neueste deutsche Geschichte zu behandeln und scheinbar gelegentlich, doch nach wohl durchdachtem Plane, möglichst konkret das Werden unserer Staatseinrichtungen zu schildern. Jede Schule hat es als ihre Pflicht anzusehen, in den Zöglingen die Überzeugung zu wecken und darin sie stets zu bestärken: der Staat, nächst der Kirche die wichtigste menschliche Gemeinschaft, eine „heilige Ordnung“, kann nur dann alle seine sehr mannigfaltigen Aufgaben lösen, wenn die Staatsbürger nicht allein ihre Rechte wahrnehmen, sondern auch ihre Pflichten treu erfüllen. Aus unvollkommenen Anfängen entstanden, entwickelt er sich allmählich zu immer grösserer Vollkommenheit; doch dürfen Änderungen nur vorsichtig getroffen werden, weil das Wohl und Wehe von Millionen auf dem Spiele steht. Deshalb hat der einzelne in seinen Wünschen sich zu bescheiden und oft Entsagung zu üben. Von einem vollkommenen Staate kann zu keiner Zeit die Rede sein, vielmehr sind gewisse Mängel unvermeidlich und müssen ohne Verdrossenheit ertragen werden. Näher auf diese Mängel vor Schülern einzugehen, wäre deshalb verfehlt, weil dann der Lehrer seine parteipolitischen Ansichten zum Ausdruck bringen müsste. Statt dessen hat er nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Verfassung jedem Staatsbürger die Möglichkeit bietet, zur Verbesserung der Verhältnisse beizutragen, wenn er nämlich es als seine Pflicht betrachtet, sein Wahlrecht auszuüben. In den höheren Lehranstalten, namentlich in den Gymnasien, trägt der Unterricht einen so wesentlich historischen Charakter, dass er deshalb schon an und für sich für politische Bildung geeignet ist. Auf Übermittlung vieler Einzelheiten kommt


  1. In der Schule handelt es sich hauptsächlich um die Kunde vom Staate. Da nun der Gegenstand, von dem man Kunde gibt, als Bestimmungswort zumeist verwendet wird (vgl. Heimatkunde, Vaterlandskunde), so ist „Staatskunde“ der allein angemessene Ausdruck, nicht „Bürgerkunde“. Die meisten dieser auf Belehrung ausgehenden Hilfsmittel bieten stofflich dasselbe, allerdings in sehr verschiedenem Umfange: nur die für die weitesten Kreise bestimmten und dabei durch ihre Darstellungsweise eigenartigen sind im Literaturverzeichnis angeführt.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/269&oldid=- (Version vom 1.8.2021)