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Schritt zu der Forderung ging, dass sie in ihm, als dem allgemeinen nationalen Staatsbürgertum, auf- und untergehen sollten. Der dritte Stand wollte dann „alles“ sein und erklärte seine Versammlung als Nationalversammlung. – Gleichwohl haben in den meisten Verfassungen, die im 19. Jahrhundert gebildet wurden, die alten Herrenstände durch das Zwei-Kammern-System ihren Einfluss zu erhalten gewusst; mit den Oberhäusern dieser Art konkurrieren nur die ersten Kammern, die in den Bundesstaaten das föderative Prinzip darstellen, und eine freie Nachbildung in Gestalt des französischen „Senats“. – Das 19. Jahrhundert ist aber, ausser durch die Restauration und ihre Kompromisse mit der Revolution, durch das Emporsteigen des Proletariats auch politisch charakterisiert, das die liberalen Prinzipien im Sinne der Volkssouveränität aufnimmt, sie also in radikaler und demokratischer Richtung erweitert. Ihm steht die politische Freiheit, d. h. ihre Verallgemeinerung, im Vordergrunde seines Strebens; mit der bürgerlichen Freiheit ist es nicht zufrieden und sieht insbesondere in der wirtschaftlichen vorzugsweise die Macht der Starken über die Schwachen, die Freiheit der Ausbeutung. Er fordert und erlangt vom Staate Schutz dagegen, und erstrebt ihre Vernichtung durch Uebergang des Bodens und des Kapitals auf die Gesamtheit; der wirtschaftlichen Freiheit setzt sich die Idee der wirtschaftlichen Gleichheit entgegen. Der politischen Kräfte, die in den Massen gären, bemächtigt sich zeitweilig die Monarchie und mit ihr die alten Herrenstände, indem der Caesarismus auf Grund des „Suffrage universel“ sich etabliert, um die Bourgeoisie zu drücken. So konnte die Ausdehnung der politischen Freiheit als „französische“ Freiheit der „englischen“ gegenübergestellt werden. Jene wurde und wird – wenn demokratisch gestaltet – als Absolutismus und Willkürherrschaft („Tyrannei“) der jeweiligen Majorität bezeichnet. Die zentralisierte Verwaltung gilt als ihr hervorstechendes Merkmal, das sie mit dem fürstlichen Absolutismus gemein habe. Dagegen sagte im Sinne des älteren Liberalismus (und als Gedanken des Freiherrn v. Vincke) Niebuhr: aus der Erkenntnis, dass die Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung beruhe, sei die preussische Städte-Ordnung hervorgegangen. Diese Denkungsart führte in Frankreich Tocqueville, in Deutschland Gneist weiter. Seitdem hat aber auch in England der demokratische Gedanke und der Einfluss der Massen starke Fortschritte gemacht, wenn auch noch nicht bis zum allgemeinen Stimmrecht: neuerdings (1911) besonders durch die Beschränkung der politischen Macht des Oberhauses, wogegen diese von den heutigen englischen Konservativen, mit denen die Altliberalen verbunden sind, als Hort der bürgerlichen Freiheit behauptet wurde. Herbert Spencer verklagte die Ausdehnung der (wenn auch demokratischen) Staatsgewalt als „neuen Toryismus“; Sozialismus war ihm nur ein anderes Wort dafür. Der Fortschritt des sozialistischen Gedankens hat aber bewirkt, dass sowohl die Tory- als die Whig-Partei jetzt, in Spencers Sinne, das Individuum und seine bürgerliche Freiheit gegen den Staat, und nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die Verbindungen der Individuen ausspielen, wenigstens soweit es sich um Arbeiter-Verbindungen handelt. Immer offenbarer konzentriert sich gerade in England die politische Entwicklung um den Kampf zwischen der besitzenden und der Arbeiterklasse. Andererseits begegnet sich dieser Liberalismus in der Verneinung des Staates und aller Zwangsgemeinwirtschaften mit derjenigen kommunistischen Richtung, die an die Selbsthülfe der Arbeiterklasse appelliert und im theoretischen Anarchismus ihren konsequentesten Ausdruck sucht. – In Nebenländern ist die politische Freiheit als Stimmrecht auch auf Frauen ausgedehnt worden; und diese Ausdehnung steht in England wahrscheinlich nahe bevor. Sie wird freilich zunächst eher im altliberalen und aristokratischen als im demokratischen Sinne geschehen. Aber das Fortschreiten der Demokratie wird sich auch hier als unaufhaltsam erweisen, zunächst als Kompensation, aber auch als mögliches Heilmittel gegen die von der wirtschaftlichen Entwicklung getragene Plutokratie. Die daraus entspringenden Parteikämpfe werden nur durch sittliche und intellektuelle Momente gemildert werden können.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/267&oldid=- (Version vom 1.8.2021)