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gestaltet. Das Bewusstsein, dass sie für sich selber sorge, erzeugt in der Bürgerschaft den Wunsch nach Freiheit vom Staate. Und die Möglichkeit, den Trägern der Staatsgewalt Hilfe zu leisten gegen ihre Feinde, verleiht diesem Wunsch den erforderlichen Nachdruck. So bilden sich Stadtstaaten im Staate; sie schliessen Bündnisse, führen Kriege und verhandeln mit dem Staatsoberhaupte wie, wenn sie unabhängig wären.

Zwischen die Gemeinden und den Staat schieben sich möglicherweise genossenschaftliche oder herrschaftliche Verbände : Kreise, Provinzen, Länder. Auch sie erfüllen Aufgaben des Gemeinlebens und beschränken somit auf der einen Seite die kleineren Verbände in ihrem Wirkungskreise wie sie auf der anderen Seite dem Staatsleben Grenzen ziehen.

Und nun zeigt sich, wie die verschiedenen Formen der menschlichen Verbände sich wechselseitig vertreten können. Ein schwacher Staat – eine starke Entwicklung der anderen Verbände. Beschränkt sich der Staat auf die Mehrung des Rechtsfriedens, so nehmen Familie, Genossenschaft, Gemeinde, Provinz die Aufgaben wahr, die nur in gesellschaftlichem Zusammenwirken gefördert werden können. Ist der Staat nicht im Stande, den Frieden zu erhalten, so übernehmen die anderen Verbände auch diese Aufgabe. Es kommt zu einer Dezentralisation des sozialen Lebens, die zur völligen Auflösung des Staates führen kann. Indem sie aber etwa den Staat vernichtet, schafft sie neue, unabhängige Gewalten und damit neue Staaten – der Kreislauf der Körperschaftsbildung beginnt von neuem.

Der Polizeistaat des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutet einen Tiefstand des Lebens der nichtstaatlichen Verbände. Der Staat monopolisiert das öffentliche Leben und die öffentliche Gewalt; er unterdrückt wie die Freiheit des Einzelnen so auch die der mit ihm konkurrierenden Verbände. Er strebt nach „Allmacht“. Doch ist auch dafür gesorgt, dass die Staatsbäume nicht in den Himmel wachsen. Denn er muss die Kindererziehung notwendig der Familie überlassen; das Privateigentum zu beseitigen hat auch der absolute Staat nicht versucht; wie die Kirche sich neben dem Staate behauptet, so behaupten sich in ihm örtliche und persönliche Verbände, deren Selbstverwaltung allerdings auf’s äusserste beschränkt, wenn nicht beseitigt wird.

Dass die französische Revolution, die die absolute Herrschaft des Königs zerbrach, um die absolute Herrschaft des Volkes an deren Stelle zu setzen, der Bildung anderer Verbände neben dem Staate nicht günstig war, kann nicht wunder nehmen. Es bildete sich zwar die Vorstellung eines den drei Betätigungen der Staatsgewalt ebenbürtigen „pouvoir municipal“ heraus, deren folgerichtige Verwirklichung zur Umformung des Staates in einen aus kommunalen Verbänden zusammengesetzten Bundesstaat hätte führen müssen. Doch ging die weitere Entwicklung in Frankreich bald wieder nach entgegengesetztem Extrem hin. Die municipale Selbständigkeit passte nicht in das System der „einigen und ungeteilten Staatsgewalt“; so wurde denn bald genug das Präfekten-System wieder eingeführt. Aber diese Politik führte zur völligen Zentralisation von Gesetzgebung und Verwaltung und damit zum Despotismus Napoleon’s wie des Parlaments.

Wie anders die Entwicklung in Deutschland, zumal in Preussen! Als der Freiherr vom Stein mit den Trümmern des Staates Friedrichs des Grossen ein neues Preussen schuf, begann er mit der Beseitigung der patrimonialen Gewalt und der Wiederherstellung des Rechts der Selbstverwaltung der Städte, das er in entsprechender Ausbildung auf die übrigen lokalen Verbände zu übertragen gedachte. Von unten auf gedachte er deu Staat zu bauen: im Gemeindebürgertum sollte das Staatsbürgertum wurzeln; auf der Gemeinde fussend, sollte der Bau des Staates emporsteigen. Der Bau blieb unvollendet; erst die neuere Zeit hat unternommen, ihn weiterzuführen; noch aber ist er nicht vollendet. Kein Zweifel, dass es ein kerndeutscher Gedanke ist, der die Freiheit des Einzelnen mit der Gemeindefreiheit, beide aber mit dem Staatsgedanken in Einklang setzt.

Nicht Freiheit vom Staate, sondern Freiheit im Staate und für den Staat ist nunmehr die Forderung. In diesem Sinne auch Freiheit für die innerstaatlichen Körperschaften, insbesondere die Gemeinden. So ist die Rechtsform der öffentlichen Körperschaft die Verwirklichung des Gedankens der Selbständigkeit der Verbände; sie sind selbständig, weil ihre Selbständigkeit dem Staate dienlich ist.

Dennoch werden diese Verbände nicht einfach Staatsbehörden. Was sie von solchen unterscheidet, ist, dass sie nicht vom Staat für Staatszwecke organisiert worden sind, sondern zunächst

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/242&oldid=- (Version vom 30.7.2021)