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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Dem Prinzip moderner Staatsgliederung entspricht der Satz, dass jeder Teil des Staatsgebietes einer Ortsgemeinde angehören muss. Dieser Satz wird in den östlichen Provinzen Preussens und einigen norddeutschen Kleinstaaten durchbrochen von dem Rudiment der alten patrimonialen Gliederung des flachen Landes, dem selbständigen Gutsbezirk. Hier steht noch die feudal-patrimoniale Gestalt der Selbstverwaltung an Stelle der korporativen; die kommunalen Pflichten und Rechte sind solche des Gutsherrn, der sie persönlich oder durch einen Vertreter als Gutsvorsteher ausübt. Die Einwohner des Gutsbezirkes sind kommunalpolitisch noch Hintersassen; und zwar sind sie nach der oben dargestellten preussischen Organisation, die auf der Kreisverfassung mit ihrem Dreiständesystem beruht, auch von jeder Vertretung in den höheren Kommunalkörpern ausgeschlossen.

Die Verfassung der Ortsgemeinden ist im Süden und Westen Deutschlands eine überwiegend einheitliche für Stadt und Land; im Norden und Osten eine verschiedene für Land- und Stadtgemeinden. Das erste System herrscht tatsächlich auch da, wo zwar formell verschiedene Ordnungen bestehen, ihr Inhalt aber in der Hauptsache übereinstimmt, wie in der Rheinprovinz, Hessen und Baden. Württemberg differenziert innerhalb seiner einheitlichen Gemeinde-Verfassung lediglich nach der Einwohnerzahl. Dagegen ist nach dem preussischen System, das die meisten norddeutschen Staaten und das rechtsrheinische Bayern angenommen haben, der Unterschied zwischen Stadt- und Landgemeinden ein „historischer“, d. h. Städte sind nur die Ortsgemeinden, in denen die St. O. eingeführt wurde, die also entweder von altersher Stadtrecht besassen oder denen es ausdrücklich verliehen ist.

Man sieht in der starken Differenzierung städtischer und ländlicher Gemeindeverfassung gern einen urwüchsigen Zug deutscher Eigenart im Gegensatz zur romanischen Neigung der Schablonisierung und Nivellierung. Danach hätte sich die deutsche Eigenart auf ostelbisch-slavischem Kolonialboden urwüchsig reiner erhalten als in den alten Landen deutscher Kernstämme, der Franken und Schwaben, die sich verwelschen liessen! Doch sieht man von diesem völkerpsychologischen Problem ab, so erscheint die Forderung wohl berechtigt, dass sich die Organisationsformen des kommunalen Gemeinlebens möglichst der Verschiedenartigkeit der konkreten Gemeinden anpassen, nicht aber in eine abstrakte Schablone gepresst werden. Jedoch wird gerade dieser Forderung das „historische“ System keineswegs gerecht, indem es einerseits überwiegend agrarische Flecken als „Städte“, andrerseits grosse Industrieorte oder Pertinenzen grösster Städte als „Dörfer“ behandelt. Die Abgrenzung nach der Einwohnerzahl mag den praktischen Bedürfnissen eher entsprechen, doch nicht immer; auch haftet ihr eine mechanische Starrheit an, die in den Grenzfällen und bei besondern örtlichen Verhältnissen zu recht unbefriedigenden Resultaten führen kann. Sowohl den praktischen Bedürfnissen wie dem Selbstverwaltungsprinzip passt sich am besten eine Ordnung an, die innerhalb gesetzlicher Normativbestimmungen der kommunalen Autonomie einen freieren Spielraum bei der Auswahl ihrer Organisationsformen lässt. Die Hauptsache bleibt aber, dass in jeder Form die Gemeinde als wahrer Selbstverwaltungskörper organisiert sei; und gerade dies ist nach dem preussischen System bei der Landgemeinde noch weit weniger der Fall als bei der Stadt. Allerdings fehlt es hier im Osten allzu oft an der Voraussetzung wirklicher kommunaler Selbstverwaltung, der entsprechenden materiellen und intellektuellen Leistungsfähigkeit der Gemeinde, was wiederum mit der radix malorum zusammenhängt, dem Zwerggemeindetum inmitten der kommunalen Immunitäten des Grossgrundbesitzes.

Als Repräsentativorgan erscheint in den kleinsten Landgemeinden noch unmittelbar die Gemeinde-Versammlung aller Gemeinde-Mitglieder, eventuell mit einem Pluralstimmrecht der Grundbesitzer; in den grösseren Landgemeinden wird von diesen Stimmberechtigten die Gemeinde-Vertretung gewählt; in den meisten preussischen Provinzen, in vielen norddeutschen Staaten und in Baden nach dem Dreiklassensystem. Gemeinde- Versammlung oder Vertretung wählt den Gemeinde-Vorsteher und die Schöffen, die in der Regel kein Kollegium bilden.

Die Stadtverfassung weist zwei Haupttypen auf: die dualistische Ratsverfassung, die sich schon in der mittelalterlichen Organisation der Städte entwickelt hatte, und die Bürgermeistereiverfassung, die sich an das französische Mairiesystem anlehnt. Die erstere charakterisiert sich nicht bloss durch die kollegiale Organisation des Stadtvorstandes (Magistrat, Stadtrat), sondern auch

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/234&oldid=- (Version vom 28.7.2021)