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des Flickwerks gelten, das die Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte auf diesem Gebiete nur noch zu leisten vermochte.

Die Lücke, die bei der Entlassung Steins i. J. 1808 in der Kommunalorganisation des östlichen Landes offen gelassen war, wurde endlich durch die östl. Landgemeinde-O. v. 3. Juli 1891 ausgefüllt. Den zwingenden Anlass gab auch hierzu jene Steuerreform, da die Neuordnung der Kommunalabgaben unter Überweisung der bisher staatlichen Realsteuern ohne eine Neuordnung der ländlichen Kommunalverfassung undurchführbar gewesen wäre. Das alte Prinzip einer blossen Realgemeinde der „angesessenen Wirte“ konnte nicht mehr in voller Ausschliesslichkeit aufrecht gehalten werden. Aber in dem für die ganze Organisation der ländlichen Selbstverwaltung und damit auch der höheren Kommunalkörper entscheidendsten Punkte, dem Verhältnis von Kleingemeinde und selbständigem Gutsbezirk, vermochte auch jetzt noch der preussische Gesetzgeber nichts zu bessern. Wohl hatte der Entwurf des Ministers Herrfurth eine Zusammenlegung von Landgemeinden und Gutsbezirken durch Verordnung zulassen wollen und sogar eine allgemeine Revision dieser Verhältnisse in Aussicht genommen. Aber diese Absicht einer gründlichen Reform scheiterte auch diesmal wieder an der alten Gegnerschaft. Das schliessliche Kompromiss behält zwar formell die Möglichkeit einer Eingemeindung durch Verordnung bei; knüpft sie jedoch an so komplizierte Bedingungen und Instanzen für jeden Einzelfall, dass tatsächlich eine planmässige, organisatorische Neuordnung der kommunalen Einteilung unmöglich gemacht ist. Auch die als Surrogat leistungsfähiger Landgemeinden vorgesehenen Zweckverbände sind darauf angelegt, die Entwicklung von ländlichen Samtgemeinden unter Einbeziehung des Grossgrundbesitzes zu verhindern. Die Entscheidung steht beim Kreisausschuss, dessen Zusammensetzung wie die des Kreistages ja gerade auf dem Mangel solcher Samtgemeinden beruht. Zu Gunsten dieser Behörde ist auch das Selbstbestimmungsrecht der Landgemeinde gelähmt, da der Gemeindevorsteher ihre Entscheidung einzuholen hat bei jedem Gemeindebeschluss, der nach seiner – oder des Landrats – Ansicht das Gemeindeinteresse verletzt. So ist auch an dieser fundamentalen Stelle der Kardinalfehler der ganzen Organisation unverändert geblieben. Eine der östlichen ähnliche L.G.O. erhielt Schleswig-Holstein 1802.

Der Gedanke der Zweckverbände, der in der L.G.O. ein Notbehelf für die Zwerggemeinden sein sollte, hat neuestens durch die beiden Gesetze vom Juli 1911 Anwendung auf die Städte und im besonderen auf die grösste Gemeinde des Reichs gefunden. Während die deutsche Entwicklung des letzten Menschenalters vornehmlich durch das gewaltige Anwachsen der Städte, insonderheit der Grossstädte und ihrer Umgebung, der grossstädtischen Agglomerationen charakterisiert wird, hat die Verwaltungsorganisation von Anbeginn einen ausgesprochen antiurbanen Zug gezeigt; und seit 1876 hat die Gesetzgebung nicht einmal mehr den Versuch gemacht, der gewaltigen tatsächlichen Entwicklung dieser ältesten und grössten Selbstverwaltungskörper organisatorisch auch nur nachzuhinken. Alle, vor 35 Jahren von der Regierung selbst als unhaltbar bezeichneten Mängel bestehen noch heute. Mit der gesetzlichen Möglichkeit einer eventuell zwangsweisen Bildung städtischer Zweckverbände ist demgegenüber wenig getan. Allerdings ist bei vielen Städten den dringendsten Misständen durch Eingemeindungen wenigstens äusserlich abgeholfen worden. Nicht so bei Berlin. Seine Einfügung in den Aufbau der Verwaltungsorganisation war von vornherein für die Entfaltung kommunaler Selbstverwaltung höchst ungünstig. Sein schnelles und gewaltiges Wachstum musste sich bei der unverhältnismässigen Enge seines Gebiets – es ist weitaus die kleinste Millionenstadt der Erde! – mehr als irgendwo sonst ausserhalb des Weichbildes, in der suburbanen Agglomeration vollziehen. Nach der kurzen Episode unter dem Minister Herrfurth setzte die Regierung jeder Eingemeindungspolitik hartnäckigsten Widerspruch entgegen und förderte das Emporwuchern eines kommunalen Chaos ohne gleichen. Und doch wäre hier die Gesetzgebung zur Lösung einer Aufgabe berufen gewesen, die in der bisherigen Entwicklung der modernen Stadtverfassungen fast völlig vernachlässigt ist: der Dezentralisierung kommunaler Organisation. Sie ist ein unabweisliches Bedürfnis für eine gedeihliche Selbstverwaltung der Grossstädte. Der unerträglich gewordenen kommunalen Zersplitterung Gross-Berlins soll nunmehr der neue „Verband“ abhelfen. An sich ein höchst unzulängliches Mittel für solchen Zweck, und nicht ohne ernste Gefahr für das Lebensprinzip kommunaler Selbstverwaltung, weil dadurch die organisch

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/230&oldid=- (Version vom 27.7.2021)