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unten nur in eigentümlicher Brechung, die sich aus seinem Verhältnis zu den 3 Elementen der Kreisorganisation, den 3 restaurierten Kreisständen ergibt. Zwischen Landrat und Kreisstädten herrscht bestenfalls ein bewaffneter Frieden als notwendige Folge der unglücklichen Eingliederung der Städte in den agrarischen Kreis. Dagegen hat der Landrat die Landgemeinden tatsächlich und rechtlich unbedingt in der Hand. Zur wirksamen Leitung des Kreises ist er also auf die Unterstützung des ersten Kreisstandes angewiesen, die er nur durch Eingehen auf dessen Sonderinteressen gewinnen kann. Gemeinsam aber beherrschen beide nicht nur Kreistag und Kreisausschuss absolut, sondern damit die ganze Organisation, we sie auf Grundlage dieser Kr. O. aufgebaut wurde.

Der Reform der Kreise folgte die der Provinzen durch die Prov. O. v. 1875, die gleichfalls nur für die östlichen Provinzen ausser Posen erging. Und mit zwingender Logik projizierten sich die spezifisch östlichen Charakterzüge der Kr. O., insonderheit die Unterordnung der städtischen Interessen unter die des agrarischen Grossgrundbesitzes, auf die Prov. O. Das gilt zunächst von der Bildung des Repräsentativorganes der Provinzialgemeinde, des Provinziallandtags. Seine Mitglieder werden von den Kreistagen gewählt, in Stadtkreisen von Mag. und Stadtver. Dass die Provinzialvertretung aus den Kreisvertretungen hervorgehe, entspricht dem seit den Stein-Hardenbergschen Plänen feststehenden Grundriss dieser Organisation. Jedoch sollten danach die Kreisvertretungen aus den Gemeindevertretungen hervorgehen; und diese grundlegende Voraussetzung ist mangels einheitlicher kommunaler Fundamentierung des Kreises, an deren Stelle das Dreiständesystem der Kr. O. getreten war, weggefallen. Damit sind auch im Provinziallandtag die Städte kraft Gesetzes zu hoffnungsloser Minderheit verdammt. Und der Provinziallandtag wählt die beiden anderen leitenden Organe der Provinzialgemeinde: Provinzialausschuss und Landesdirektor! Aus der Konstruktion der Kreisverfassung ergibt sich auch die merkwürdige Tatsache, dass im Provinzialausschuss, einem Organ rein kommunaler Selbstverwaltung, politische Staatsbeamte, die Landräte, eine massgebende Rolle spielen. So haben auch im Provinzialverbande die Städte den geringsten Einfluss auf die Verwendung der Mittel, zu deren Aufbringung sie nach ihrer Leistungsfähigkeit am meisten beitragen müssen; wie denn auch hier diese Mittel vor allem für solche Einrichtungen gebraucht werden, an denen jedenfalls die grösseren Städte das geringste Interesse haben, weil sie schon als Grossgemeinden solche kommunalen Aufgaben z. B. Wegebau, Irrenpflege und ähnl. selbst erfüllen müssen. Andrerseits fehlt der beim Kreise noch gelassene Notausgang eines Ausscheidens aus dem Provinzialverband auch für die grössten Städte. Nur Berlin gehört keiner Provinz an.

Doch auf diese wesentlich pekuniäre Beeinträchtigung ist die Wirkung der antiurbanen Grundlage der ganzen Organisation keineswegs beschränkt. Die mit Kr.- und Prov.-O. eingeführte Gesetzgebung nahm auch den Gedanken wieder auf, die reorganisierten höheren Kommunalkörper zur Ausübung der Kommunalaufsicht heranzuziehen; und sie fügte die Organisation einer – freilich recht fragmentarischen – Verwaltungsrechtsprechung hinzu. Die dafür neugeschaffenen Behörden erhielten nach mannigfachen Experimenten durch L.V.G. u. Z.G. von 1883 ihre heutige Gestalt. Als Beschlussbehörden der allgemeinen Landesverwaltung fungieren über dem Kreisausschuss: Bezirksausschuss und Provinzialrat; der Bezirksausschuss ist zugleich, wie auch der Kreisausschuss, Verwaltungsgericht. Der Provinzialrat besteht aus dem Oberpräsidenten als Vorsitzenden, einem ernannten staatlichen Berufs- und 5 gewählten Ehrenbeamten; der Bezirksausschuss aus dem Regierungspräsidenten als Vorsitzenden, 2 ernannten staatlichen Berufs- und 4 gewählten Ehrenbeamten. Die ehrenamtlichen Mitglieder beider Behörden aber werden vom Provinzialausschuss gewählt. Da der Povinzialausschuss vom Provinziallandtag gewählt wird, so überträgt sich dessen Struktur auf jene Kollegien; und da der Provinziallandtag auf der Kreisverfassung ruht, ist am letzten Ende für die ganze Organisation das im Kreise verankerte condominium von Staatsbureaukratie und Grossgrundbesitz massgebend. Die so konstruierten Behörden aber sind zur Mitwirkung bei der Staatsaufsicht über die städtische Selbstverwaltung, der Bezirksausschuss auch zur Verwaltungsrechtsprechung über ihre Angelegenheiten berufen. Dagegen erhob sich schon bei der Beratung der Prov. O. der energische Widerspruch aller Vertreter der Städte ohne Unterschied der politischen Partei; lieber noch wollten sie unter der bisherigen Aufsicht der Staatsbureaukratie allein verbleiben. Sogar der Minister Eulenburg erkannte die Berechtigung dieses Widerspruches an, verwies aber zur Beruhigung auf das Gesetz, das er nunmehr für das „notwendigste“ erklärte, nämlich eine revidierte

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/227&oldid=- (Version vom 27.7.2021)