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in Russland, wo man vielleicht mehr als anderswo geneigt ist, sich an hohen und unausführbaren Gedanken zu berauschen.

Jetzt ist es möglich, die beiden Fragen zu beantworten, von denen wir ausgegangen sind. Zunächst: wie verhält sich der Anarchismus zum Verbrechen? Jene Gewalttaten, durch welche die öffentliche Aufmerksamkeit am meisten auf den Anarchismus gelenkt worden ist, sind nicht für ihn karakteristisch. Denn eine Richtung im Anarchismus, die von Godwin, Proudhon und Tolstoj vertretene, verwirft alle Gewalt, und ganz die gleichen Gewalttaten sind überdies auch im Dienste anderer, nichtanarchistischer Ziele begangen worden, so von den russischen Nihilisten, den irischen Feniern und den Armeniern in der Türkei. Aber jene Gewalttaten sind doch auch nicht ausser Zusammenhang mit dem Anarchismus. Sie sind hervorgegangen aus dem Gedanken, dass die beste Propaganda die Propaganda der Tat sei, wie ihn Kropotkin aufgestellt und die an ihn anknüpfende, bei weitem verbreitetste Richtung im Anarchismus sich angeeignet hat. Danach sind die anarchistischen Verbrechen allerdings nichts, was zum Wesen des Anarchismus gehörte, aber die herrschende Richtung im Anarchismus muss dennoch für sie verantwortlich gemacht werden.

Ferner: in welchem Verhältnis steht der Anarchismus zur Sozialdemokratie? Sie stehen in einem gewissen Gegensatze zu einander. Denn während die Sozialdemokratie die Aufgaben des Staates oder der zwar nicht Staat genannten, aber doch durchaus als Staat gedachten künftigen Gesellschaft bis ins Ungemessene steigern will, lehnt der Anarchismus im Gegenteil den Staat gänzlich ab. Trotzdem besteht zwischen ihnen aber auch ein gewisser Zusammenhang. Die herrschende Richtung im Anarchismus und die Sozialdemokratie sind in gleicher Weise erfüllt von der Überzeugung, dass ein unabwendbarer und ihnen willkommener Umschwung den gegenwärtigen Gesellschaftszustand beseitigen und an seine Stelle einen neuen setzen wird, bei welchem die Produktionsmittel dem Privateigentum des Einzelnen entzogen sein werden. Die herrschende Richtung des Anarchismus geht nur weiter als die Sozialdemokratie: nach ihrer Voraussicht werden auch die Konsumtionsmittel dem Privateigentum entzogen sein, und mit dem Privateigentum wird zugleich der Staat verschwinden. Hiernach lässt sich zwar nicht der Anarchismus im allgemeinen, aber doch die in ihm herrschende Richtung als eine äusserste Steigerung des modernen Sozialismus betrachten.

7. Kritik des naturwissenschaftlichen Anarchismus.

Man könnte geneigt sein, den Anarchismus mit einem Achselzucken als „Wahnsinn“ abzufertigen. Aber damit würde man ihm Unrecht tun. Der Anarchismus hat uns durch seine kühne und rücksichtslose Kritik auf eine empfindliche Lücke unserer Staatswissenschaft hingewiesen. Die Aufgaben des Staates hatte man immer wieder mit der grössten Sorgfalt erörtert, seine Daseinsberechtigung aber niemals zum Gegenstande der Untersuchung gemacht. Indem der Anarchismus dem Staate die Daseinsberechtigung absprach, hat er denjenigen, die den Staat für notwendig halten, die unabweisbare Pflicht auferlegt, sich über die Gründe ihrer Überzeugung klar zu werden und die Gedanken des Anarchismus zu widerlegen.

Der naturwissenschaftliche Anarchismus, die herrschende Richtung, die an Bakunin und Kropotkin anknüpft, ist der Meinung, dass die gegenwärtige Entwicklung mit unabwendbarer Notwendigkeit den Staat beseitigen und ein Zusammenleben in freien vertraglichen Vereinigungen an seine Stelle setzen werde, woraus den Menschen der Gegenwart die Aufgabe erwachse, dies nach Möglichkeit zu befördern und zu erleichtern. Diese Lehre ist unrichtig.

Allerdings hat die freie Vereinsbildung in den letzten Jahrzehnten einen ausserordentlichen Aufschwung genommen. Die Arbeiter haben sich zu Gewerkschaften und die Arbeitgeber ihrerseits sich zu Arbeitgeberverbänden zusammengetan, und jene Vereinigungen sind mit diesen dann wieder durch Tarifverträge in Beziehung getreten. Die Produzenten der verschiedensten Industrien haben sich zu Kartellen, ihre Abnehmer zu Abnehmerverbänden vereinigt, und die verschiedenen Kartelle und Abnehmerverbände haben wieder ihr Verhältnis zu einander durch feste Verträge geregelt. Vieles dieser Art liesse sich noch anführen: niemals hat die freie vertragliche Vereinigung eine solche Bedeutung gehabt wie in der Gegenwart.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/198&oldid=- (Version vom 25.7.2021)