Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/191

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

oder der harmlosen Besucher eines Kaffees geschleudert wurden, an Bluttaten wie die Ermordung des Königs Humbert von Italien, des französischen Präsidenten Carnot oder gar der alten Kaiserin Elisabeth von Österreich. Nichts hat so sehr wie diese Verbrechen die Aufmerksamkeit auf den Anarchismus gelenkt. Nichts scheint ihn so gut wie sie zu kennzeichnen.

Vielfach auch betrachtet man den Anarchismus als die äusserste Steigerung der sozialistischen Gegnerschaft gegenüber unsrer Gesellschaft. Trotz aller Proteste der Sozialdemokraten erklärt man die Sozialdemokratie als die „Vorfrucht des Anarchismus“, den Anarchismus als eine letzte Steigerung des Sozialismus. In der Tat ist in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Sozialdemokraten zum Anarchismus übergegangen, um sodann die Sozialdemokratie als würdige Genossin der „reaktionären Bourgeoisie“ aufs heftigste zu befehden. So scheint die Meinung gerechtfertigt, die in dem Anarchismus nichts anderes als einen aufs äusserste getriebenen Sozialismus erblickt.

Es ist erstaunlich, was für eine Unkenntnis über den Anarchismus besteht, nicht nur beim grossen Publikum, sondern auch bei denen, die sich berufsmässig mit ihm beschäftigt und mehr oder weniger umfangreiche Bücher über ihn geschrieben haben. Man hört und liest über den Anarchismus die seltsamsten Urteile. Bald soll er überhaupt kein bestimmtes Ziel haben, bald soll sein Ziel in der Beseitigung der Gesellschaft oder doch wenigstens der Rechtsordnung bestehen. Besonders verbreitet aber sind die beiden Meinungen, von denen die eine sein Wesen in einem verbrecherischen Kampf gegen alles Bestehende, die andere in einer Übertreibung sozialistischer Ideen erblickt. Was ist an diesen Meinungen wahres?

Das Wesentliche im Anarchismus treffen sie jedenfalls nicht. Er ist kein blosses Panier eines Verbrecherordens und keine blosse Übertreibung des Sozialismus. Der Anarchismus ist eine Staatslehre von ausserordentlicher Kühnheit und Grossartigkeit. Er ist die Lehre, die dem Staate die Daseinsberechtigung abspricht. Andere Staatslehren erörtern, ob der Staat ein grösseres oder geringeres Mass von Aufgaben haben soll. Der Anarchismus untersucht die Frage, ob der Staat sein soll, und er verneint sie. Er lehnt den Staat ganz allgemein ab, nicht nur die Monarchie, sondern ebenso auch die freieste Republik.

Auf diese Weise tritt der Anarchismus in entschiedenen Gegensatz zu allen anderen Staatslehren. Bei weitem den grössten Kreis von Aufgaben weist dem Staate der Sozialismus zu. Nach ihm soll der Einzelne nur ein bedeutungsloses Rädchen in der grossen Staatsmaschine sein, die gesamte Produktion, Landwirtschaft wie Industrie, soll vom Staat betrieben werden, jeder Einzelne für den Staat als dessen Angestellter arbeiten und auf diese Weise in eine vollkommene Abhängigkeit von ihm herabgedrückt sein. Nicht ganz so weit geht der Konservativismus. Er denkt nicht daran, dem Staate die gesamte Produktion zu übertragen, aber er ist durchdrungen davon, dass der Einzelne in der Freiheit seiner Bewegung in erheblichem Masse um des grossen Ganzen willen beschränkt sein muss und dass der Staat deshalb einer weitgehenden Macht über ihn nicht entraten kann. Noch ein geringeres Mass von Aufgaben will dem Staate der Liberalismus übertragen. Für ihn liegt das wertvollste Mittel einer gedeihlichen Entwicklung in einer möglichst weitgehenden Freiheit des Einzelnen, der „Racker von Staat“ ist nur geeignet, diese Entwicklung durch täppische Eingriffe zu stören, deshalb gilt es, seine Macht auf ein Mindestmass zu beschränken. Der Anarchismus will den Staat gänzlich aus der Welt schaffen. Nach ihm kann alles das, was nach den anderen Staatslehren dem Staate obliegt, viel besser durch das freie Zusammenwirken völlig unbeschränkter Einzelner erreicht werden. Wenn man erwägt, dass der Sozialismus dem Staate den grössten Kreis von Aufgaben zuweist, der Konservativismus einen kleineren, der Liberalismus einen möglichst kleinen, so kann man den Anarchismus als einen auf die äusserste Spitze getriebenen Liberalismus bezeichnen.

Der Anarchismus beruht, gleich anderen Staatslehren und in noch höherem Masse als jene, nicht auf sorgfältigen und umfassenden Beobachtungen und streng gezogenen Schlüssen, sondern auf einer gewissen Seelenstimmung. Diese Grundstimmung des Anarchismus ist ein unerschütterliches Vertrauen in die Güte der Menschennatur und im engsten Zusammenhang damit ein glühender Hass gegen allen äusseren Zwang. Aus dieser Grundstimmung entnimmt der Anarchismus die Überzeugung, dass der grösste Teil der Übel, unter denen die Menschheit gegenwärtig leidet, durch den Staat und seinen Zwang verschuldet sei und dass nach Beseitigung des Staates

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/191&oldid=- (Version vom 25.7.2021)