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da nur für bestimmte Arten von Staatsakten. Dass sich sämtliche staatliche Verwaltungsakte auf eine vorhergehende Volksabstimmung stützen, ist undenkbar und war auch in den griechischen Städtestaaten des Altertums, die regelmässig als geschichtliche Beispiele der unmittelbaren Demokratie angeführt werden, ein Ding der Unmöglichkeit. Wo die unmittelbare Demokratie heute überhaupt noch vorkommt, beschränkt sich die unmittelbare Ausübung der staatlichen Herrschaftsgewalt durch das Volk auf das Gebiet der Gesetzgebung. Zur Ausübung der übrigen staatlichen Funktionen werden vom Volke besondere repräsentative Organe bestellt. In diesem Sinne besteht die unmittelbare Demokratie in einigen schweizerischen Kantonen und Halbkantonen[1] und neuerdings in einer Anzahl von Gliedstaaten der nordamerikanischen Union.[2]

β) Die mittelbare oder repräsentative Demokratie.[3]

Das Wesen der mittelbaren oder repräsentativen Demokratie besteht darin, dass die der Gesamtheit des Volkes zustehende Staatsgewalt nicht unmittelbar vom Gesamtvolke selbst, sondern von bestimmten Organen des Gesamtvolkes ausgeübt wird. Dabei findet, der Idee der Gewaltenteilung entsprechend, in der Regel eine Scheidung in gesetzgebende und vollziehende Gewalt statt. Die erstere wird meistens einer von der Gesamtheit der Staatsbürger gewählten Volksvertretung, die letztere einer einzelnen Person (dem „Präsidenten“), seltener einem Collegium anvertraut. Die Volksvertretung scheidet sich häufig, ähnlich wie in der Monarchie, in zwei Häuser von verschiedenartiger Zusammensetzung, deren übereinstimmende Beschlussfassung für bestimmte Fälle als staatliche Willenserklärung oder als Voraussetzung einer solchen Erklärung gilt. Das Organ der Exekutive hat meistens auch eine gewisse Einwirkung auf die Gesetzgebung. Im einzelnen können die genannten Organe bald mehr, bald weniger Befugnisse haben; begrifflich notwendig ist nur, dass sie ihre Zuständigkeit nicht aus sich selbst heraus, sondern zufolge Übertragung von seiten des Volkes besitzen. Auch die innere und äussere Verfassung jener Organe ist begrifflich insoweit gleichgültig, als sie das Wesen der repräsentativen Demokratie unberührt lässt. Innerhalb des Gesamtrahmens der repräsentativen Demokratie bestehen allerdings ganz erhebliche Verschiedenheiten. Die feineren Unterschiede der zahlreichen Unterarten dieser Herrschaftsform lassen sich in der Tat nur dadurch feststellen, dass man der Forderung Richard Schmidt’s entsprechend[4] eine Reihe von Staatscharakteren mit jener Herrschaftsform näher untersucht.

Das klarste Bild von den Einrichtungen einer repräsentativen Demokratie gewinnen wir durch die Betrachtung der französischen Republik, die als Einheitsstaat eine verhältnismässig einfache Organisation zeigt.[5]


  1. Vgl. Hilty, das Referendum im schweizerischen Staatsrecht. Arch. f. öff. R. II (1887). S. 167 ff., Seydel, Abhdlg. S. 28 f.
  2. Nach einem beachtenswerten Bericht von George Judson King (Toledo, Ohio) (Frankfurter Zeitung No. 106 vom 6. April 1911) besteht die direkte Gesetzgebung in folgenden Staaten: Süddakota (1898), Oregon (1902), Montana (1906), Oklahoma (1907), Missouri und Maine (1908), Arkansas und Colorado (1910), Illinois (1911). In mehreren anderen Staaten ist die Einführung geplant. Das übliche Verfahren ist folgendes: „Jeder beliebige Akt der Staatslegislatur kann auf Antrag von fünf Prozent der Wahlberechtigten suspendiert und dem Volke zur Abstimmung unterbreitet werden. Initiativanträge, die eine Annahme oder Ablehnung neuer Gesetze herbeiführen wollen, müssen von acht Prozent der Stimmgeber unterzeichnet sein. Alle Massnahmen werden bei den allgemeinen Wahlen, bei denen die Wahl von Staatsbeamten erfolgt, zur Abstimmung gebracht. Die Entscheidung des Volkes konstatiert einen legislativen Akt.“ Vgl. auch Curti, Der Weltgang des Referendums, x., Arch. f. öff. R. XXVIII (1912) S. 1–44, bes. S. 39.
  3. Jellinek, S. 708 ff. (725 ff.), Seydel, Vorträge, S. 21 f. (Annalen 1898, S. 485).
  4. S. oben S. 136.
  5. Vgl. hierüber im einzelnen Loening Edgar, Art. „Staat“, im H. W. H. der Staatswissenschaften, 2. A. (1901) B. VI., S. 907 ff., Lebon, Das Verfassungsrecht der französischen Republik, 1909, S. 14 ff. Öffentl. Recht d. Gegenwart B. VI).
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/169&oldid=- (Version vom 25.7.2021)