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bevorzugter physischer oder juristischer Personen zusteht.[1] Auf Grund welcher Eigenschaften diese Personen als Träger der Staatsgewalt berufen erscheinen, ist begrifflich gleichgültig. Naturgemäss wird es stets irgend ein tatsächlicher oder eingebildeter Vorzug sein, der einer bestimmten Personenkategorie zur Herrschaft über die anderen verhilft. Die Hauptrolle spielt hierbei, abgesehen von der Berufung auf einen besonderen göttlichen Auftrag (Theokratie), die Zugehörigkeit zu bestimmten Familien (Geschlechteraristokratie, Adelsaristokratie[2]) oder zu bestimmten Berufskreisen (Militäraristokratie, Priesteraristokratie, Aristokratie der grossen Landesherren, Herrschaft der Zünfte), oder der Besitz eines grossen Vermögens (Geldaristokratie, Plutokratie, Timokratie) oder auch der Besitz besonderer Bildung. Endlich kann auch einfach die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse für die Berufung zur Herrschaft entscheidend sein; in diesem Falle fallen allerdings, soferne überhaupt nur die Angehörigen eben dieser bestimmten Rasse zum Staatsvolke gehören, Aristokratie und Demokratie tatsächlich zusammen.[3] In der Regel ist in der Aristokratie ein Aufsteigen aus der Klasse der Beherrschten in die Klasse der Herrschenden rechtlich unmöglich oder doch tatsächlich sehr schwierig; zumeist gründet sich die Zugehörigkeit zu der herrschenden Klasse auf die Abstammung, in dem Sinne, dass „die jeweiligen Häupter einer durch Vererbung des Vorrechts abgeschlossenen Gruppe von bevorrechtigten Geschlechtern die oberste Gewalt besitzen“.[4] Im einzelnen können die Aristokratien, ebenso wie alle anderen Arten von Mehrherrschaften sehr verschiedenartig organisiert sein. Die wichtigste Unterscheidung ist die in unmittelbare und mittelbare Aristokratien, je nachdem die der Gesamtheit der Bevorrechteten zustehende Staatsherrschaft von jener Gesamtheit selbst oder nur von einem oder mehreren Vertretern jener Gesamtheit ausgeübt wird. Der oder die Vertreter der herrschenden Klasse werden in der Regel von der Gesamtheit der Bevorrechtigten auf bestimmte Dauer oder auf Lebenszeit gewählt. Das Wesen der Aristokratie gestattet vielerlei Unterformen, die die Aristokratie bald der Monarchie bald der Demokratie nahe bringen. Heute ist die Aristokratie – wenn wir von den einer Schablonisierung widerstrebenden individuellen Herrschaftsformen der zusammengesetzten Staaten, wie des Deutschen Reichs, absehen, – nahezu verschwunden. Als historische Staatsindividualitäten,[5] durch deren Betrachtung wir rückschauend ein Bild von der Mannigfaltigkeit der aristokratischen Herrschaftsform gewinnen können, möchte ich besonders anführen: Die Polis der Spartiaten; die griechischen Seestädte;[6] Athen bis etwa zum Jahre 600; Karthago; die altrömische Republik mit ihrer Patrizierherrschaft; die Kastenherrschaft in Indien; Venedig und Genua.[7] Eine Abart der Aristokratie ist die Oligarchie. Sie erscheint, insofern der herrschenden Minderheit die den Trägern der Staatsgewalt in der Aristokratie sonst beigemessenen Vorzüge fehlen, als „Entartung“ dieser Herrschaftsform. Der Ausdruck Oligarchie wird aber, so mit Bezug auf das Deutsche Reich, häufig auch einfach im etymologischen Sinn gebraucht (vgl. oben S. 136).

b) Die Demokratie oder „demokratische Republik“.

Die „Demokratie“ oder „demokratische Republik“ ist diejenige Unterform der Mehrherrschaft, bei der die Staatsgewalt der Gesamtheit der Staatsbürger zukommt. Unter „Staatsbürgern“ sind hierbei alle diejenigen Staatsangehörigen zu verstehen, welche sich in dem Genusse der verfassungsmässig für alle Staatsangehörigen unter den gleichen rechtlichen


  1. Demnach ist, wie Rehm, St. L., S. 188, im Gegensatz zu der bisherigen Lehre überzeugend ausführt, auch die Zweiherrschaft (Dyarchie, Doppelkönigtum) als Mehrherrschaft und zwar als Aristokratie zu bezeichnen.
  2. Seydel, Vorträge, S. 23, bezeichnet es mit Recht als verfehlt, Aristokratie und Adelsherrschaft schlechthin zu identifizieren.
  3. S. bezüglich Spartas oben S. 134.
  4. S. Richard Schmidt, I. 266.
  5. Vgl. oben S. 134 Anm. 20 u. besonders Rich. Schmidt, II. 2, S. 839.
  6. Vgl. Rich. Schmidt, II. 1, S. 97 ff.
  7. Treitschke II, 239 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/167&oldid=- (Version vom 25.7.2021)