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C. Staat und Wirtschaftsgesellschaft. Tendenz der Entwicklung.

Historischer Staat und historische Gesellschaft sind in eine empirische Einheit verflochten. Die Entfaltung und Ausgestaltung der Wirtschaftsgesellschaft wird entscheidend beeinflusst durch die Wirkung des durch den Staat gesetzten Klassen-Monopolverhältnisses – und umgekehrt wird die Entfaltung und Ausgestaltung des Staates entscheidend beeinflusst durch die Wirkungen und Bedürfnisse der immer (mit der Volkszahl) wachsenden wirtschaftlichen Kooperation. Sie erzwingt Niederlegung oder Erniedrigung alter politischer Grenzen (deutscher Zollverein, Verwandlung von Deutschland und Italien in einheitliche Wirtschaftsgebiete), internationale Wirtschaftsbünde, Schiedsgerichte usw. Auf der anderen Seite bewirkt das „staatliche“ Element, das Gewalteigentum, Aufrichtung neuer Wirtschaftsgrenzen (Zölle etc.). Kolonial- und Marktkriege usw. Aber das ökonomische Mittel erringt offenbar immer mehr das Übergewicht über das politische in dem Masse, wie die Unterklasse an Zahl und politischer Geschlossenheit wächst. Der Staat wird immer mehr gezwungen, die Fürsorge für die Unterklasse um ihrer selbst willen, nicht mehr nur im Interesse der Oberklasse zu betreiben. Diese Entwicklungstendenz erscheint unaufhaltsam, um so mehr, als unter dem Einfluss der Freizügigkeit die Bodensperrung immer mehr ihren wirtschaftlichen Inhalt verliert; die Wanderbewegung der besitzlosen Landbevölkerung richtet das Grossgrundeigentum zugrunde: die überseeische Auswanderung hat durch die Besiedelung namentlich Nordamerikas und Argentiniens die Preise geworfen, die inländische Abwanderung die Löhne getrieben (Leutenot), und das politische Schwergewicht immer mehr auf die Industriebezirke verlegt. Daran muss das Grossgrundeigentum bald zugrunde gehen, und mit ihm verschwindet das Klassen-Monopolverhältnis und der „Staat“ im historischen Sinne als Organisation des politischen Mittels. Was bleibt, ist „Gesellschaft“, „bürgerliche Gesellschaft“ mit so viel Zwangsgewalt (also „staatlichen“ Elementen in jenem anderen Sinne) wie zur Erhaltung von Rechtssicherheit und Ordnung unentbehrlich ist.

D. Staat und „Gesellschaft im weiteren Sinne“.

Die menschliche Gesellschaft ist nicht nur bürgerliche (politische) und Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch Geschlechts-, Sprach-, Sitten-, Religionsgemeinschaft, gesellige Gemeinschaft usw. Die Einflüsse, die der „Staat“ im hier gebrauchten Sinne, also das im Klassenstaat rechtlich fixierte Klassen-Monopolverhältnis, auf alle diese Beziehungskomplexe ausübt, sind bisher noch kaum genauer untersucht worden. Die Moralstatistik hat in ihren Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen der Klassenlage und z. B. dem Kriminalismus, der Prostitution, dem Alkoholismus, der Irrsinnsziffer usw. einige Bausteine für ein solches Wissensgebäude beigebracht. Im allgemeinen konnte aber die bürgerliche Wissenschaft hier nicht einmal zur Problemstellung gelangen, weil sie „Staat“ und „Gesellschaft“ in unserem Sinne für ewige Kategorien und daher für untrennbar hält. Nur der Sozialismus, der den Staat als Klassenstaat für eine kurzlebige, der baldigen Ausrottung verfallene „historische Kategorie“ hält, konnte das Problem stellen und hat es gestellt, konnte es aber nicht mit genügender wissenschaftlicher Besonnenheit beantworten. Immerhin finden sich in den verschiedenen Utopien, z. B. in Bebels „Frau“, Bellamys „Rückblick“, Hertzkas „Freiland“, van Eedens „Kleiner Johannes“ u. a. gute Ansätze zu einer Erörterung des Problems, wie der heutige „Staat“ auf die „Gesellschaft im weiteren Sinne“ einwirkt. Jedem wahren Sozialisten ist die wirtschaftliche, die Futterfrage nicht mehr als das unentbehrliche Fundament der neuen Ordnung, in der sich alle höhere Menschlichkeit herrlich entfalten kann. Indem der sittliche, gesundheitliche, künstlerische, wissenschaftliche Hochstand der vollendet gedachten sozialistischen Wirtschaft in den leuchtendsten Farben ausgemalt wird, wird er aufs schärfste kontrastiert mit dem betrüblichen Stande der Dinge in der kapitalistischen Gegenwart; dabei wird fast immer der Zusammenhang zwischen der Klassenlage und dem allgemeinen Gesellschaftszustande mehr oder weniger glücklich deduziert.

In der Tat kann man mit Sicherheit aussprechen, dass in einer reinen „Gesellschaft“, die von allem politischen Mittel, d. h. allem „Staat“ erlöst wäre, in allen diesen gesellschaftlichen Beziehungen ein viel höheres Allgemein-Niveau bestehen würde. Die „sozialpathologischen Erscheinungen“ der Gegenwart würden als gefährliche Massenphänomene verschwinden und nur noch als für

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/139&oldid=- (Version vom 18.7.2021)