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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

ebenso wichtige zweite Aufgabe der Oberklasse zu dem Grenzschutz nach aussen der Rechtsschutz nach innen, und zwar ebenso gegen Aufstandsgelüste der Unterklasse, wie gegen allzu starke Ausbeutungsgelüste einzelner Mitglieder der Oberklasse, die als unwirtschaftlicher Raubbau an dem Objekt der Staatswirtschaft, der „Prästationsfähigkeit“ der Unterklasse, im Interesse des dauernden Tributbezuges nicht geduldet werden dürfen.

Diese beiden Aufgaben muss jeder Staat sofort übernehmen; sie bilden geradeso die Charakteristika seiner Funktion, wie das Klassenverhältniss das Charakteristikum seines Aufbaues ist. Und deswegen ist die früher fast allein herrschende Meinung vom Wesen des Staates wohl verständlich, die in ihm nichts anderes sah als den Organisator des Friedens und der Rechtsordnung, ein Institut, bestimmt, dem „Kampf aller gegen alle“ ein Ende zu machen. Das ist denn auch in der Tat seine Aufgabe; nur geschieht es nicht, wie man bisher annahm, im gleichmässigen Interesse sämtlicher Staatsbürger, sondern grundsätzlich nur im Interesse der Oberklasse. Dass dabei auch die Unterklasse sekundär sehr bedeutende Vorteile davon hat, wenn man einmal die Setzung des Staates als einer Ausbeutungsorganisation als gegeben ansieht, soll und kann garnicht bestritten werden. Selbstverständlich pflegt jeder Eigentümer sein Eigentum im Interesse seines eigenen dauernden Vorteils.

B. Die Wirtschaftsgesellschaft als das entfaltete ökonomische Mittel.

In diesem vom Staate mit seinem Gewalteigentum und seinem Recht gespannten Rahmen hat sich nun das ökonomische Mittel nach seinen eigenen Gesetzen entfaltet. Diesen Teil des menschlichen Gemeinlebens in seiner Entfaltung schlage ich vor, als die „Gesellschaft“ schlechthin oder die Wirtschaftsgesellschaft zu bezeichnen. Sie ist der Inbegriff aller derjenigen Beziehungen zwischen den Menschen, die auf dem äquivalenten Austausch eigener Dienste und Arbeitserzeugnisse gegen fremde beruhen. Wir können in der historischen Wirklichkeit keine völlig reine Wirtschaftsgesellschaft beobachten. Immerhin bildet die Volkswirtschaft des hohen Mittelalters, namentlich im Deutschland des XI. bis XV. Jahrhunderts inkl., eine sehr starke Annäherung daran (vgl. mein „Grossgrundeigentum und soziale Frage“, Berlin 1898. Zweiter historischer Teil); auch der Mormonenstaat Utah auf seiner Entwicklungshöhe vor der Annektion und heute Neuseeland lassen die wichtigsten Züge der „reinen“ Ökonomie erkennen. Charakteristisch für die reine Ökonomie ist das völlige Fehlen des Gewalteigentums. Es existiert weder das rechtliche Gewalteigentum am Menschen selbst in seiner Ausgestaltung als Sklaverei oder Hörigkeit, noch die Sperrung des Grund und Bodens gegen die freie Besiedelung durch Siedlungsbedürftige aus der Unterklasse. Infolgedessen existieren keine „freien“ Arbeiter, Grundrente besteht nur in harmlosem Ausmass als Rest der in der Grossgrundherrschaft noch bestehenden alten Eroberungsrechte, und Kapitalprofit kann sich ebensowenig in erheblichem Masse bilden, abgesehen von einigem Wucherprofit. In der Sprache der Ökonomik: in der reinen Ökonomie können wohl einige für die Gesamtverteilung harmlose Monopolverhältnisse zwischen einzelnen Personen bestehen („Personal-Monopolverhältnisse“), aber keine zwischen Klassen (keine „Klassen-Monopolverhältnisse“), weil keine ökonomischen Klassen existieren können, wo der Grund und Boden jedermann frei zugänglich ist.

Die Wirtschaftsgesellschaft entfaltet sich als das in jedem Augenblicke kleinste Mittel zur möglichst ausgiebigen Beschaffung und möglichst erfolgreichen Verwaltung der bedurften Wertdinge für die einzelnen ihr eingegliederten Personalwirtschaften bei möglichst geringem Arbeitsaufwande. Sie ist das entfaltete ökonomische Mittel in seinen beiden Auswirkungen als Arbeit und Tausch: die einzelnen Personalwirte arbeiten in Kooperation, d. h. Arbeitsteilung und -vereinigung, und versorgen sich mit den bedurften Wertdingen durch den Tausch. Den Anfang der Entwicklung stellt die undifferenzierte, noch nicht um einen Markt zentrierte Wirtschaftsgesellschaft mit sehr schwacher Kooperation dar; daraus entwickelt sich die entfaltete Wirtschaftsgesellschaft, die sich in immer grösserer räumlicher Erstreckung (Extensität) und immer höher gestaffelter Kooperation (Intensität) um ihren Markt zentriert. Das Ergebnis ist ein ständiges Wachstum der Arbeitsergiebigkeit („Produktivität“) jedes einzelnen und daher eine immer bessere Versorgung aller einzelnen mit den bedurften Wertdingen: das „Güteverhältnis“ zwischen Arbeit und Erfolg, Rohenergie und Nutzenergie steigt mit dem Wachstum der Gesellschaft, aber stärker als proportional diesem Wachstum.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/138&oldid=- (Version vom 18.7.2021)