Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/133

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Es ist völlig unmöglich, eine zureichende dogmenhistorische Darstellung der Anschauungen zu geben, die über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft geäussert worden sind. Zunächst aus einem rein äusserlichen Grunde: das Material ist über die gesamte Literatur der Philosophie, der Politik, der Ökonomik, der Staatsrechtstheorie, der Historik, der Soziologie usw. derart zersplittert und verzettelt, dass niemand es übersehen kann. Aber wollte man auch auf Vollständigkeit der Darstellung gänzlich verzichten, so würden dennoch innere Gründe die dogmenhistorische Darstellung ausschliessen. Erstens ein terminologischer: die Begriffe schwanken so stark, dass, z. B. Arnold Klöppel in seinem Buche „Staat und Gesellschaft“ genau dasjenige Staat nennt, was ich als „Gesellschaft“ bezeichnen werde, und umgekehrt genau das „Gesellschaft“, was ich „Staat“ nenne. Die Unklarheit der Begriffsbildung deutet bereits auf den zweiten inneren Grund vor: die ältere Gesellschaftsphilosophie hat zwischen den beiden Phänomenen so gut wie niemals unterschieden und niemals scharf unterschieden. Den antiken Schriftstellern gelten beide mehr oder weniger als identisch; jede kleine organisierte Menschengruppe ist für Platon bereits ein „Staat“, während unsere Zeit in der Regel hier von einer „Gesellschaft“ sprechen würde. Nur betonen die der Stoa mehr geneigten Schriftsteller stärker den „gesellschaftlichen“, die der epikuräischen Lehre mehr geneigten stärker den „staatlichen“ Charakter der Gemeinschaft, die jenen von Natur wegen, diesen durch Satzung entstanden ist. Diese Gleichsetzung geht dann durch Vermittlung der kanonischen Philosophie bis auf die Neuzeit.

So z. B. sagt Hintze, die menschliche Organisation sei doppelter Natur, erstens Lebensgemeinschaft und zweitens „ein System von Einrichtungen zum Schutze, zur Beherrschung und Regierung des ganzen Menschen- und Gebietskomplexes. Diese Seite der Organisation nennen wir die politische, jene die soziale. Von der einen Seite ist das Ganze Staat, von der anderen Seite Gesellschaft“. Für Carl Dietzel sind Volkswirtschaft, Gesellschaft und Staat drei aufeinanderfolgende Stufen der Entwicklung, jede ausgezeichnet durch eine stärkere Bindung der Individuen an einander. Er fasst den Staat auf als einheitliche Organisationsform des Volkes zur Verwirklichung gemeinsamer Bedürfnisse und Strebungen. Das ist also derjenige Teil des Staatsinhaltes, den ich bezeichne als den „Staat als Organisation des gemeinen Nutzens“, während der zweite Bestandteil fehlt: „Der Staat als Organisation des Klassennutzens“.

Wenn einmal die Vorstellung auftaucht, dass hier zwei zu unterscheidende Realphänomene gegeben seien, so wird doch oft noch immer der Staat aufgefasst als ein Teil der Gesellschaft: aus ihrem weiteren Kreise hebt er sich als der engere Kreis heraus. So z. B. sagt von Mayr 1 c. S. 5: „Staat und Gesellschaft sind nicht Gegensätze, sondern Gesellschaft ist meines Erachtens der allgemeine Begriff, der alle Arten von Vergesellschaftung in sich schliesst, deshalb vor allem auch die machtvolle und formal bestorganisierte und bestgegliederte Vergesellschaftung der Menschen im Staat“.

Im allgemeinen scheint hierbei die Vorstellung vorzuherrschen, dass im weiteren Kreise der Gesellschaft die Sitte, im engeren Kreise des Staates das Recht herrscht.

Diese Begriffstrennung ist offenbar ungenügend. Recht und Sitte gehen häufig in einander über; das Recht ist oft nichts anderes als kodifizierte Sitte, und umgekehrt wird zuweilen der Ahndung durch die Sitte überlassen, was vorher durch das Strafrecht verboten war, z. B. die Majestätsbeleidigung, die Gotteslästerung, der Ehebruch der Frau. Vor allem aber wird der wichtigste Bestandteil der Gesellschaft im ganzen, die Wirtschaftsgesellschaft, die oft, namentlich von nationalökonomischen Autoren, als Gesellschaft schlechthin betrachtet wird, von Recht und Sitte gleichmässig beherrscht und beeinflusst.

Etwas anders fasst Wendt das Problem auf. Nach ihm ist der Staat der begriffliche Inhalt aller Institutionen von vorwiegend öffentlich-rechtlichem Charakter, die Gesellschaft der begriffliche Inhalt aller Institutionen von vorwiegend privatrechtlichem Charakter. Diese Definition versagt nicht nur formal, weil sie mit der Einschränkung „vorwiegend“ jede scharfe Bestimmtheit verliert, sondern auch material, weil sie verkennt, dass unzweifelhaft sehr viele scheinbar privatrechtliche Institutionen dennoch im öffentlichen Recht wurzeln, vor allem das „Gewalteigentum“ an Grund und Boden, von dem unten die Rede sein wird.

Zu schärferer Scheidung der Begriffe kam es erst, als der wirtschaftliche, naturrechtlich begründete Liberalismus sich gegen die im Merkantilismus überspitzte Omnipotenz des Staates

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/133&oldid=- (Version vom 18.7.2021)