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blieben, dem Evangelium den Rücken gekehrt hätten und auf diese große Zahl habe die christliche Lehre jeden Einfluß verloren.

Nun kamen wir an die Reihe. Wir sagten den beiden Herren, daß Theorie und Praxis eben zwei ganz verschiedene Dinge seien. Mit den Hauptleitsätzen des Christentums seien wir voll einverstanden, wir verlangten nur, daß dieselben in die Praxis umgesetzt würden.

Zunächst die angezogene Duldsamkeit, wie sehe es hiemit tatsächlich aus? Es sei gar nicht nötig zu untersuchen, ob diese in der Theorie gepredigte Duldsamkeit anderen Religionen gegenüber auch praktisch geübt würde, beispielsweise der Jüdischen gegenüber. Es genüge schon, auf das Verhältnis der beiden christlichen Konfessionen zu einander hinzuweisen, um jedem Denkenden klar zu machen, daß von Duldsamkeit auch nicht die Spur vorhanden sei.

Entsagung! Diese Tugend der großen Masse des Volkes extra zu predigen, sei überflüssig. Die schlechte wirtschaftliche Lage zwinge, ungewollt, diese Tugend nur zu viel zu üben, während die Prediger derselben es verschmähen, sie praktisch bei sich anzuwenden, wie ihr behäbiges Aussehen beweise.

Wie es mit der Nächstenliebe in Wirklichkeit aussehe, könne man täglich beobachten. Die herrschenden Klassen lieben ihre Nächsten so sehr, daß sie ihnen nicht nur jeden Bissen, den die Armen zum Munde führen, verteuern, sondern ihnen womöglich nicht nur den einzigen Rock, sondern auch noch das Hemd ausziehen würden, um beides für sich zu verwenden.

Empfohlene Zitierweise:
Gustav Kittler: Aus dem dritten württemb. Reichstags-Wahlkreis. Im Selbstverlag des Verfassers, Heilbronn 1910, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gustav_Kittler_Erinnerungen_1910.pdf/112&oldid=- (Version vom 1.8.2018)