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Ich trete auf den Bahnsteig hinaus. Ich bin nicht so naiv zu glauben, daß ein Billett auch einen Platz bedeutet. Ich weiß, daß ich noch einen schweren Kampf zu bestehen haben werde, und ich wappne mich zu dem Kampfe, indem ich mich mit zwei handfesten Trägern verbünde, die mich in meinem heißen Bestreben, wenn auch nicht einen Platz an der Sonne, so doch am Abteilfenster zu erobern, werktätig unterstützen sollen.

Meine Verbündeten, die ihren Obolus bereits in der Tasche haben, — später kann man ja getrennt werden und ich kann in die Lage geraten, die Leute wider Willen um ihren Lohn zu bringen, erteilen mir einige praktische Winke: Mantel zuknöpfen, Brieftasche sichern, desgleichen Uhr und Portemonnaie; Hut fest aufsetzen und dann die erstbeste Waggontür forcieren und sich durch nichts zurückschrecken lassen.

Wie eine Sturmflut rast das Publikum durch die geöffnete Bahnsteigsperre, meine Verbündeten bilden die Vorhut und stoßen mit elementarer Wucht vor, unter ihren genagelten Stiefeln knirschen Hühneraugen und Gepäckstücke, ihre Ellenbogenstöße schleudern gewichtige Männer und zarte Frauen wie Spreu beiseite. Das nenne ich denn doch zu rücksichtslos, aber es ist keine Zeit um Rücksichten zu nehmen, denn nun werde ich selbst zum Spielball von Rippenstößen: eine Kofferecke bohrt sich in mein Kniegelenk, — sie muß unbedingt eisenbeschlagen sein, eine Reiherfeder kitzelt mich an der Nase, — der Tastsinn arbeitet prestissimo.

Hurra! Hurra! wir sind an der Waggontür. Doch da hat sich die Menge gestaut. Weiß Gott, woher sie gekommen, denn wir waren doch so ziemlich die ersten auf dem Bahnsteige. Meine Vorhut dringt vor, sie hat bereits eine Stufe erobert und bohrt sich nun mächtig vorwärts. Nun bin ich auch auf der Stufe, die nachdrängende Menge hebt mich empor, ich schwebe einen Augenblick über den Köpfen, dann sinke ich wieder! Herrgott, mein Brustkasten,

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Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/105&oldid=- (Version vom 1.8.2018)