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erkennt die Hütte der drei von der Stiefmutter verzauberten Raben an den draußen hängenden Hemden und muß dreizehn Jahre stumm bleiben. – Weißrussisch bei Federowski 1, 193 nr. 739 und kürzer 1, 86 nr. 265 (die Schwester sucht die zwölf in Wölfe verwandelten Brüder in der Waldhütte auf und muß vor ihnen auf eine Fichte flüchten, wo der Prinz sie findet). Bei Gliński 4, 116 verwandelt die Stiefmutter die zwölf Brüder in Adler und ihre Schwester in eine Taube; doch erhält diese durch einen Greis ihre menschliche Gestalt wieder und erlöst in einer andern Welt die Brüder, die sie aus dem mit ihren Tränen gefüllten Becher besprengt; ein Riesenvogel trägt sie zurück. – Lettisch bei Treuland S. 171 nr. 107 (der König verspricht der Hexe, seine zwölf Söhne zu töten, falls ihm eine Tochter geboren werde; die Schwester sucht die Brüder bei der Hexe auf und erfährt von dieser, daß sie fünf Jahre weder sprechen noch lachen darf, um sie zu erlösen; als Mann verkleidet verleumdet die Hexe die junge Königin, aber die zwölf Raben löschen den Scheiterhaufen und werden wieder zu Menschen). – In einem französischen Märchen aus Louisiana (Fortier p. 84 nr. 23) verwandelt die Stiefmutter die elf Brüder in Vögel, die Schwester aber in eine Negerin.

Das Märchen zeigt ein hohes Alter. Bereits im 12. Jahrhundert ward es mit der Sage vom Schwanritter[1], in die es ursprünglich nicht hineingehört, verbunden. Um 1190 erzählt der Mönch Johannes der lothringischen Abtei Haute-Seille in seinem lateinischen Dolopathos (S. 73–79 ed. Oesterley 1873), wie ein junger Ritter auf der Jagd eine schöne Nixe (nympha) findet und heimführt[2]. Sie gebiert ihm nach Jahresfrist sechs Söhne und eine Tochter, jedes mit einem goldenen Kettchen um den Hals. Die Schwieger aber läßt sie aussetzen, legt statt ihrer junge Hunde ins Bett und bewegt den Ritter, seine Frau lebendig bis zur Brust eingraben zu lassen[3]. Nach sieben Jahren erblickt dieser seine von einer Hindin gesäugten und von einem Einsiedler erzogenen Kinder


  1. G. Paris, Romania 2, 490. 19, 324f. Vgl. W. Müller, Germania 1, 420. 425. Golther, Roman. Forschungen 5, 103. Blöte, Zs. f. roman. Phil. 21, 189. 25, 8. 16. Huet, Romania 34, 206.
  2. Danach deutsch in einer Leipziger Hs. des 15. Jhs. Altdeutsche Blätter 1, 128 (1836) und bei Bechstein 1845 S. 208 = 1874 S. 196 ‘Die sieben Schwanen’. Um 1225 gereimt im französischen ‘Roman de Dolopathos’ von Herbers (p. 317 ed. Brunet et Montaiglon 1856).
  3. Zu dieser Strafe einer verklagten Frau vgl. R. Köhler 1, 571.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_432.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)