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Der Mond scheint so hell,
Meine Pferdchen laufen so schnell:
Süß Lieb, reut dichs auch nicht?’[1]

(’t Maantje schynt zo hel,
Myn paardtjes lope zo snel:
Soete liefje, rouwt ’t w niet?)

‘Nein, warum sollt michs reuen? Ich bin immer bei Euch wohlbewahrt’, da sie doch innerlich eine Angst hatte. Als sie in einem großen Wald waren, fragte sie, ob sie bald da wären. ‘Ja’, sagte er, ‘siehst du das Licht da in der Ferne? Da ist mein Schloß.’ Endlich kamen sie da an, und alles war gar schön. – Am andern Tage sagte er zu ihr, er müßt auf einige Tage sie verlassen, weil er wichtige Affären hätte, die notwendig wären, aber er wolle ihr alle Schlüssel lassen, damit sie das ganze Kastell sehen könnte, von was für Reichtum sie all Meister wär. Als er fort war, ging sie durch das ganze Haus und fand alles so schön, daß sie völlig damit zufrieden war; bis sie endlich an einen Keller kam, wo eine alte Frau saß und Därme schrapte. ‘Ei Mütterchen, was macht sie da?’ – ‘Ich schrap Därme, mein Kind; morgen schrap ich Eure auch.’ Wovon sie so erschrak, daß sie den Schlüssel, welcher in ihrer Hand war, in ein Becken mit Blut fallen ließ, welches nicht gut wieder abzuwaschen war. ‘Nun ist Euer Tod sicher,’ sagte das alte Weib, ‘weil mein Herr sehen kann, daß Ihr in der Kammer gewesen seid, wohin außer ihm und mir kein Mensch kommen darf.’ (Man muß aber wissen, daß die zwei vorigen Schwestern auf dieselbe Weise waren umgekommen.) Da in dem Augenblick ein Wagen mit Heu von dem Schloß wegfuhr, so sagte die alte Frau, es wäre das einzige Mittel, um das Leben zu behalten, sich unter das Heu zu verstecken und dann da mit wegzufahren, welches sie auch tat. Da inzwischen der Herr nach Haus kam, fragte er, wo die Mamsell wäre. ‘O’, sagte die alte Frau, ‘da ich keine Arbeit mehr hatte und sie morgen doch dran mußte, hab ich sie schon geschlachtet, und hier ist eine Locke von ihrem Haar und das Herz, wie auch was warm Blut; das übrige haben die Hunde alle gefressen, und ich schrap die Därme.’ Der Herr war also ruhig, daß sie tot war. – Sie kommt inzwischen mit dem Heuwagen zu einem nahbei gelegenen Schloß, wo das Heu hin verkauft war, und sie kommt mit aus dem Heu und erzählt die ganze Sache und wird ersucht, da einige Zeit zu bleiben. Nach Verlauf von einiger Zeit nötigt der Herr von diesem Schloß alle in der Nähe wohnenden Edelleute zu einem großen Fest, und das Gesicht und Kleidung von der fremden Mamsell wird so verändert, daß sie nicht erkannt werden konnte, weil auch der Herr von dem Mordkastell dazu eingeladen war. Da sie alle da waren, mußte ein


  1. Über dies weitverbreitete Totenreiterlied vgl. W. Wackernagel, Kl. Schriften 2, 422 und besondere Erich Schmidt, Charakteristiken 1, 213. 226–232 (1902). Grundtvig, DgFv. 2, 492. 3, 871. Wollner, Archiv f. slav. Phil. 6, 239.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_408.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)