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Schon um 1023 berichtet Egbert von Lüttich in seiner lateinischen ‘Fecunda ratis’ (hsg. von E. Voigt 1889 S. 232 ‘De puella a lupellis servata’) als ein von den Bauern gehörtes Abenteuer, wie man ein fünfjähriges Mägdlein in einer Wolfshöhle fand, wo es mit den jungen Wölfen spielte und sie mahnte: ‘Zerreißt meinen roten Rock nicht, ihr Mäuse! Den hat mir mein Pate geschenkt’.

Quidam suscepit sacro de fonte puellam,

475
Cui dedit et tunicam rubicundo vellere textam.

Quinquagesima sancta fuit baptismatis huius,
Sole sub exorto quinquennis facta puella
Progreditur vagabunda sui immemor atque pericli;
Quam lupus invadens silvestria lustra petivit

480
Et catulis praedam tulit atque reliquit edendam.

Qui simul aggressi, cum iam lacerare nequirent,
Coeperunt mulcere caput feritate remota.
‘Hanc tunicam, mures, nolite’, infantula dixit,
‘Scindere, quam dedit excipiens de fonte patrinus!’

485
– Mitigat immites animos deus, auctor eorum.

Aus dem Streicheln des Kopfes in v. 482 schließt Koegel (Geschichte der deutschen Literatur 1, 2, 273. 1897), daß die tunica eigentlich eine Kappe war.

Traurig endet die schwedische Ballade ‘Jungfrau i blå skogen’ (Geijer-Afzelius, Svenska folkvisor² nr. 63). Ein Mädchen geht abends zum Tanze durch einen finstern Wald; da begegnet ihm der graue Wolf. ‘Ach lieber Wolf’, spricht es, ‘beiß mich nicht! Ich geb dir mein seidengenähtes Hemd’. ‘Dein seidengenähtes Hemd verlang ich nicht, dein junges Leben und Blut will ich haben.’ So bietet sie ihm ihre Silberschuhe, hernach die Goldkrone, aber vergebens. In der Not klettert das Mädchen auf eine hohe Eiche; der Wolf untergräbt die Wurzel. Die Jungfrau in Todesangst tut einen schneidenden Schrei. Ihr Geliebter hörts, sattelt und reitet schnell wie ein Vogel; wie er zur Stelle kommt, (liegt die Eiche umgestürzt und) ist nur ein blutiger Arm des Mädchens übrig. In den dänischen Fassungen bei Grundtvig (DgFv. nr. 54 ‘Varulven’; vgl. 2, 666. 3, 827) erscheint meist eine schwangre Frau an Stelle des Mädchens.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_236.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)