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nr. 31), wo ein Rindsmagen und eine einbeinige Frau rettend eingreifen, und bei Straparola 1, 4, wo schließlich die alte Amme die Schandtaten des als Astrolog verkappten Vaters aufdeckt. Doch schon die alte Lebensbeschreibung des fabelhaften Angelnkönigs Offa, Warmunds Sohnes,[1] berichtet ähnliches. Auf der Jagd traf der König im Dickicht ein wunderschönes Mädchen, das ihm erzählte, es sei die Tochter des Königs von York und vor der unzüchtigen Liebe ihres Vaters geflüchtet. Von Liebe ergriffen, führte Offa die Jungfrau mit sich und machte sie zu seiner Gattin. Als er einst gegen die Schotten zu Felde lag und Botschaft an seine Fürsten daheim sandte, traf es sich, daß der Bote auf der Burg des Königs von York übernachtete. Der benutzte die Gelegenheit zur Rache und vertauschte den Brief Offas mit einem falschen, in dem geboten war, die Königin und ihre beiden Kinder in die Wildnis zu führen und ihnen Hände und Füße abzuhauen. Die Fürsten vollführten den Auftrag; doch verschonten die Diener die Königin, und ein Einsiedler, der schon einmal der Königin Hilfe erwiesen, nahm die Verstoßene auf und belebte durch Gebete die Leichen ihrer Kinder wieder. Dort fand sie endlich der heimgekehrte König.[2]

Die Leiden der im Kindbett liegenden Königin, die von der bösen Schwieger oder andern beim Gatten verleumdet wird, als habe sie ihre Kinder gefressen[3] oder Hunde geboren, kehren in vielen mittelalterlichen Erzählungen von unschuldig verfolgten Frauen wieder. In einigen dänischen Märchen geht ihnen eine Einleitung über die wunderbare Empfängnis und Geburt der Heldin vorauf: Grundtvig 1878 nr. 9 ‘Den stumme Dronning’ = Leo-Strodtmann


  1. Matthaei Paris Historia maior ed. W. Wats 1684 p. 965–968 aus dem Cotton Ms. Nero D 1 = Originals and analogues of some of Chaucer’s Canterbury tales 2. ser. 7, 73; mit Unrecht dem Matthaeus Paris zugeschrieben (Dictionary of national biography 43, 212); vgl. Müllenhoff, Sagen nr. 3. Suchier, Paul-Braunes Beiträge 4, 512. Rickert in Modern Philology 2, 29. 321. Grüner, Mathel Parisiensis Vitae duorum Offarum (Diss. München 1907) S. 62.
  2. Vgl. auch bulgarisch: Šapkarev 9, 523; Sbornik za nar. umotvor. 18, 3, 218, serbisch: Nikolić p. 109, weißrussisch: Federowski, Lud białorus. 2, nr. 78, kaukasisch: Sbornik mater. kavkaz 18, 3, 42 ‘Der abgewiesene Bräutigam’.
  3. Vgl. das gälische Mabinogi Pwyll (Stephens, Geschichte der wälschen Literatur 1864 S. 440) und ein Märchen der Masai (Merker 1904 S. 219. Hollis 1905 S. 177).
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_020.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)