Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache | |
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nichts mehr in lateinischer Sprache geschrieben worden ist, woran nicht Cicero oder Vergil grammatisch und stilistisch sehr beträchtliche Ausstellungen zu machen haben würden, so darf man doch anderseits der neulateinischen Stilkunst das Zeugnis geben, daß es ihr an Leistungen von außerordentlicher Eleganz und Feinheit nicht mangelt.
Die klassizistische Imitation und ihr Einfluß.Man hat es oft schon ausgesprochen, daß gerade diese vielfach so kunstvolle Nachahmung des klassischen Stiles, wie sie durch die Renaissance üblich wurde, dem Latein den Lebensrest genommen hat, der ihm auch nach dem Altertum verblieben war. Die Möglichkeit, neu auftauchende Begriffe durch kühne Neubildungen zu bezeichnen, den Gedanken nicht in die Schablone der ciceronischen Periode hineinzupressen, kurz die Möglichkeit einer lebendigen Fortentwicklung, soweit solche bei einer literarischen Sprache überhaupt denkbar ist, hätte dem Latein bleiben müssen, wenn es sich auf die Dauer auch nur als internationale Sprache der Wissenschaft behaupten sollte. Das kann am besten die Wissenschaft zeigen,Latein als Sprache der Wissenschaft. in der das Latein wirklich diese Stellung bis zum heutigen Tage behalten hat, die systematische Botanik. Kühne, sich beständig aus griechischem und lateinischem Sprachmaterial vermehrende Neubildungen, Verzicht auf alle stilistische Kunst sind die Zeichen ihres Lateins, aber es ermöglicht dem Deutschen, sich ohne weiteres mit dem Russen und Japaner zu verständigen.
Wenn die Botanik den positiven Beweis liefert, daß nur eigenmächtige Behandlung das Latein befähigen kann, die Sprache der Wissenschaft zu bleiben, so gibt die klassische Philologie den negativen. Zweifellos ist – freilich neben dem wachsenden Bestreben, den wissenschaftlichen Stoff in der eigenen Sprache künstlerisch zu gestalten – die Forderung, „ciceronisch“ zu schreiben, die Ursache davon, daß selbst unter den Philologen die Neigung, sich Lateinisch auszudrücken, fast verschwunden ist. Der Philologe empfindet heute mehr als je zuvor das Bedürfnis, neben den sog. klassischen Perioden des Altertums auch die früheren und späteren wie sachlich so sprachlich aufs genaueste zu durchforschen. Es liegt auf der Hand, daß die Belastung des Gedächtnisses mit dem Sprachmaterial so verschiedener Perioden eine „klassizistische“ Nachahmung des Lateins sehr erschwert.
Nun haben zudem gerade die letzten Jahre gezeigt, wie undankbar das Bestreben, „klassisch“ schreiben zu wollen, selbst bei energischer Ausschaltung solch störender Nebeneinflüsse bleibt. Daß Cicero durchaus rhythmisch schreibt, wie wir oben dargelegt haben, ist erst vor etwa 15 Jahren wieder entdeckt worden. Und also ist alles, was seit der Renaissance an „ciceronischem“ Latein geschrieben und als solches bewundert worden ist, durchaus unciceronisch.
Hier haben wir eine anscheinend vernichtende Kritik der „klassizistischen“ Imitation. Und doch kann gerade die klassische Philologie nicht aufhören, sie zu fordern, es müßte ihr denn alles Stilgefühl verloren gehen.
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/571&oldid=- (Version vom 1.8.2018)