Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache | |
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wo unsere Schulgrammatiken den Dativ erwarten lassen. Die Steigerungsformen werden von Plautus öfters mit magis ’mehr‘ umschrieben, ja es findet sich in seiner Zeit auch schon die Umschreibung mit plus, die der französischen (plus long ’länger‘) genau entspricht. Auch de ’von‘ kann man damals schon so gesetzt finden, daß es dem de des französischen Teilungsartikels (de l’eau) lebhaft ähnelt.
Verschiedenes Alter der charakteristisch romanischen Erscheinungen.Anderes wieder läßt sich nicht so weit zurückverfolgen. Wenn sich gewisse lateinische Entsprechungen des Typus il a écrit schon vor Christi Geburt einstellen, so begegnet uns ein dem ecrira ’er wird schreiben‘ genau zu vergleichendes scribere habet erst im 4. Jahrhundert danach. Die eigentümlichen romanischen Adverbialbildungen auf mente (italienisch sinceramente ’aufrichtig‘, prossimamente ’nächstens‘, französisch sincèrement, prochainement) lassen sich aus lateinischen Verbindungen wie sincerā mente ’aufrichtigen Sinnes‘ herleiten, die in auffälliger Weise zuerst im 2. Jahrhundert n. Chr. hervortreten. Eine andere so charakteristische Erscheinung wie die Verwandlung des c vor hellen Vokalen in einen Zischlaut (lateinisch Cicero gesprochen Kikero, aber französisch Cicéron gesprochen sziszeron, italienisch Cicerone gesprochen tschitscherone) ist schlecht gerechnet ein Jahrhundert, wahrscheinlich sogar mehrere jünger als die Entstehung der Adverbien auf mente.
Durchgreifend werden all diese Erscheinungen natürlich oft erst lange, nachdem sie sich in ihren ersten Ansätzen angekündigt haben. Aber auch ohne dieser Differenz weiter Beachtung zu schenken, darf man aussprechen, daß die verschiedenen Eigentümlichkeiten des Romanischen zu sehr verschiedenen Zeiten in der lateinischen Umgangssprache hervorgetreten sind, daß also diese Umgangssprache eine noch weit veränderungsreichere Geschichte gehabt haben muß als die Schriftsprache. Tinte ist eine konservierende Flüssigkeit.
Dabei sind wir nur einen Teil dieser Veränderungen in der Umgangssprache wirklich zu belegen imstande; die anderen kann man nur aus den romanischen Idiomen erschließen. Wenn z. B. im Französischen très als das steigernde „sehr“ erscheint, so setzt das voraus, daß irgendwann das lateinische trans ’jenseits‘, dessen lautlicher Abkömmling zweifellos très ist, die Bedeutung „sehr“ angenommen habe; sie ist aber bis jetzt in keinem lateinischen Sprachdenkmal nachzuweisen. Das gleiche gilt bei der Bildung des Imperfektums; eine Anzahl der romanischen Sprachen setzt eine Form monéam sentíam statt des schriftsprachlichen monebam sentibam voraus, aber auch hier fehlt uns bis jetzt jeder schriftliche Beleg.
Indes nicht nur für einzelne durch das Romanische vorausgesetzte Formen fehlt es bis jetzt an jedem Beleg im lateinischen Schrifttum, sondern für den ganzen Prozeß der Herausbildung lokal begrenzter Sprachen auf dem weiten einst vom Lateinischen beherrschten Gebiete. Daß das Latein, über einen großen Teil Europas und einen Teil Afrikas ausgebreitet, in Dialekte zerfallen mußte, ist natürlich, zumal es ja in Frankreich,
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 552. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/564&oldid=- (Version vom 1.8.2018)