Seite:Griechische und Lateinische Literatur und Sprache.djvu/563

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

So kommt unsere Rekonstruktion des Ur-Romanischen in einer großen Menge von Fällen mit der antiken Überlieferung über die Umgangssprache überein, in vielen sogar schon mit ihrem ältesten Zeugen, mit Plautus. Ein eigentümlicher Zug der romanischen Sprachen ist es z. B., daß sie das Neutrum eingebüßt und in vielen Fällen durch das Femininum auf -a ersetzt haben. Italienisch la gioja, französisch la joie die ’Freude‘ spiegeln nicht lateinisch gaudium wider, sondern ein Feminin gaudia (Genetiv gaudiae). Wie es sich nun nicht bezweifeln läßt, daß jene romanische Femininform auf -a vielfach aus dem im Lateinischen auf -a endigenden Plural der Neutra (gaudia, Genetiv gaudiorum) herausgebildet worden ist, so zeigt Plautus zwar noch nicht jenes Femininum gaudia, gaudiae, wohl aber in häufigerer Verwendung den Plural gaudia, gaudiorum, wo der Singular nicht nur ausgereicht haben würde, sondern nach dem Gebrauch der ciceronischen Latinität wohl allein korrekt ist. Eine ähnliche Übereinstimmung zwischen dem Romanischen und Plautus besteht in Dingen des Artikels und des Pronomens der dritten Person „er“, „sie“, „es“. Wir haben eingangs gesagt, daß diese dem Uritalischen völlig fehlten; die romanischen Sprachen aber kennen alle den bestimmten Artikel (französisch le la, italienisch il lo la), den unbestimmten (französisch un une, italienisch uno una) und das „er“ und „sie“ (französisch il elle, italienisch egli ella). Die erste und dritte Formenreihe ist offenbar aus lateinisch ille illa ’jener‘ usw. entwickelt, der unbestimmte Artikel aus lateinisch unus ’einer‘. Nun treffen wir bei Plautus nicht nur ille illa und unus una schon in abgeschwächter Bedeutung, die ganz lebhaft an die des romanischen Artikels und Pronomens erinnert, sondern wir finden bei ihm auch häufig ille illa usw. auf der Endsilbe betont (illé illá), und es ist ja wohl klar, daß z. B. la nur dann aus illa entstehen konnte, wenn dieses nicht seine erste, sondern seine zweite Silbe betonte.

Aber wir können über solche Einzelheiten hinaus nachweisen, daß auch der wesentlichste Zug in der Struktur der romanischen Sprachen schon der Umgangssprache zur Zeit des Plautus nicht ganz fremd war – der sog. analytische Charakter. Die romanischen Sprachen (wie viele jüngere Sprachphasen) neigen dazu, durch Umschreibungen auszudrücken, was ältere Perioden mit einer einheitlichen Form bezeichnet hatten. Wenn wir im Uritalischen noch die Möglichkeit fanden, „in dem Garten“ durch ein Wort wiederzugeben, so muß schon das Latein der ältesten historischen Zeit zwei Worte daran wenden in horto. Auf diesem Wege ist das Romanische außerordentlich weit vorgedrungen; man vergleiche nur französisch à la mère mit lateinisch matri, de la mère mit matris, il a écrit mit scripsit, plus long mit longior; ja manches, was uns jetzt im Französischen schon wieder einheitlich anmutet, ist eigentlich auch eine solche Umschreibung, z. B. il écrira d. i. eigentlich écrire a ’er hat zu schreiben‘ gegenüber lateinisch scribet. Nun finden wir schon bei Plautus dare ’geben‘ gelegentlich in auffälliger Weise mit ad ’zu‘ = französisch à konstruiert,

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 551. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/563&oldid=- (Version vom 1.8.2018)