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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

familiären Sprache aufklärt. Wir besitzen z. B. unter den Hunderttausenden lateinischer Inschriften auch solche, die von Leuten ohne jede literarische Aspiration gefertigt sind. Auf den Mauern des 79 n. Chr. durch den Vesuvausbruch verschütteten Pompeji lesen wir heute noch allerlei Kritzeleien, die sich wie an Sittlichkeit so an sprachlicher Kunst vielfach nicht über das Niveau dessen erheben, womit bei uns heute unnnütze Hände die Wände zieren. Wer bei den Wagenrennen im Zirkus einem Wettfahrer den Sieg mißgönnte – meist war es wohl ein Konkurrent –, schrieb dessen Namen mit einigen Flüchen auf eine Bleitafel und warf sie dann in ein Grab; dergleichen Tafeln sind in ziemlicher Zahl wieder aufgefunden worden – und dem Grammatiker, der das Volk reden zu hören wünscht, ward der Fluch zum Segen. Auch Grabschriften, heidnische wie christliche, zeigen oft genug statt der schulmäßig durch die Jahrhunderte überlieferten klassischen Formen den Widerklang der wirklich im Volke geläufigen. Neben den Inschriften findet, wer sucht, auch in den handschriftlich überlieferten Sprachdenkmälern manches Gleichartige. Von der realistischen Einführung der Volkssprache bei Petron war schon die Rede. Weiteres geben z. B. die grammatischen Lehrbücher der Römer aus. Nicht als ob auch nur einem von ihnen die Umgangssprache als würdiger Gegenstand gälte. Im Gegenteil – wo deren Formen erwähnt werden, geschieht es im Gegensatz zu den schriftsprachlichen, um letztere als die allein gebrauchswürdigen zu bezeichnen. So verfährt besonders ein Schriftchen des 3. Jahrhunderts, das in zwei Kolumnen nebeneinander links die korrekte d. h. schriftsprachliche Form, rechts mit einem non eingeführt die familiäre gibt. Was uns hier wichtig ist, das ist natürlich gerade das, was der alte Grammatiker verwarf. Wenn wir z. B. lesen vetulus (’alt‘), non veclus, so ist uns die letztere Form außerordentlich interessant als diejenige, aus der sich italienisch vecchio, französisch vieil entwickelt haben, die auf das schriftlateinische vetulus nach den Lautgesetzen nicht zurückgehen können.

Rekonstruktion der Alltagssprache aus den romanischen Sprachen.Mit dem letzten Beispiel aber haben wir schon eine neue und neben Plautus die umfangreichste Reihe von Zeugnissen berührt, die wir für die Einzelheiten der römischen Alltagssprache besitzen. Angenommen auch, daß alles verloren wäre, was direkt von ihr Kunde gibt, so wären wir doch in der Lage, sie zu rekonstruieren. Gerade wie wir etwa das Uritalische in seinen wesentlichen Zügen aus dem Lateinischen, Oskischen, Umbrischen rekonstruiert haben, so gewähren uns die sog. Tochtersprachen des Lateins, Italienisch, Spanisch, Französisch und die anderen, die Möglichkeit, ein Bild der Sprache zu entwerfen, der sie entstammen. Diese Sprache aber ist natürlich nicht das Buchlatein, die „Schreibe“, sondern eben das Latein, das von der Masse gesprochen worden ist, die Spanien, Gallien usw. latinisierte. Aus den romanischen Sprachen würden wir für das Umgangslatein die Form veclus (statt des schriftsprachlichen vetulus) auch dann erschließen, wenn sie uns von keinem antiken Zeugen verbürgt wäre.

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/562&oldid=- (Version vom 1.8.2018)